Liebe Angelia, hier eine sehr persönliche Antwort: das jubelnde Missverständnis sei mir fern. Auch darf ich aus angemessener Scham nicht sagen, was mir beim Kaddish passiert ist, als ich einmal aus einem bestimmten Anlass in die Synagoge eingeladen war (zum Glück hat es keiner bemerkt).
Mein Abstand zur Metaphysik beruht auf einer sehr gruseligen Erfahrung mit dem katholischen Religionsunterricht auf einer bayrischen Grundschule. Es ist für manche Achtjährige offenbar kein Problem, von einem Mann im schwarzen Kleid darüber aufgeklärt zu werden, dass das Fleisch sündig ist. Es verfügt auch nicht jeder Knabe in dem Alter über die entsprechende Fantasie, sich anhand von Dürer-Stichen die Strafen der Hölle auszumahlen. Auch erkennt nicht jeder in dem Alter das Problem, wie man nicht in Gedanken sündigen soll, wenn man sich doch nur der Gedanken bedienen kann, um seine Gedanken zu kontrollieren, also unablässig mit sündigen Gedanken sich befassen muss, um sie nicht zu denken. Ein lustiges Rätsel, wenn man es mit den Augen einer Echse betrachtet. Nach einigen Versuchen, einfach überhaupt nicht zu denken, griff ich zu magischen Praktiken und verhexte alle Uhren der Welt, mir mit jedem Zeigerrücken einen Ablass zu erwirken. Ich konnte ja nicht im Zustand der Unreinheit in die Gemeinde eintreten, nicht wahr? Später sah ich ein, dass Gott mich verworfen hat und richtete mich auf die ewige Verdammnis ein. Mir wurde nämlich während der Messe regelmässig übel, so daß ich schließlich gehen mußte, um mich in die Rosenrabatten zu erbrechen. Das nahm ich, nicht ohne Erleichterung, als Zeichen des HErrn. Später verwarf ich IHN ebenso, wie er es mit mir getan hatte. Danach sammelte ich die historischen Verbrechen meiner Kirche und freute mich an jedem neuen Fund. Ich sehe heute davon ab, meinen Zorn auf diesen einen Pädagogen zu verallgemeinern. Möge er in Frieden ruhen, und nicht in der Hölle, die er verdient hätte (Ich muss mich zwingen, bei dieser Aussage zu bleiben).
Lassen wir die Schöngeistigkeit, die Schwärmerei, die Weltflucht doch für einmal beiseite. Wenn Dir an einem echten metaphysischen Zugang liegt, muss das Problem des süßlichen Nebels für Dich ja mindestens ebenso brennend sein wie für mich. Religion kann etwas sehr Schönes sein, nehme ich an. Für Dich, für Adorno, und vielleicht sogar für mich. Ich wünsche niemanden zu beschämen. Diese ganze Zone war bislang für mich mit einem Tabu belegt: Bildverbot, Schriftverbot, Wortverbot. Jedes Wort über das, was ich als Kind naiv als Aufgehobensein in der Welt empfunden habe, erschien mir bis vor kurzem als weitere Schändung dieser weit entfernte Erinnerung, denn wenn man anfängt darüber zu sprechen, wird irgendwann ein Mann im schwarzen Kleid kommen und sich dieser Angelegenheit bemächtigen und uns (mich zumindest) in den Wahnsinn treiben. Offiziell aber betrachte ich alle Auseinandersetzungen zum Thema von Außen, als von Menschen gemachte Modelle und Vorstellungen. Natürlich ist das nicht schlüssig. Würden wir beide uns in der Leere treffen, wäre jedes weitere Wort überflüssig. Allerdings wäre die Leere dann auch nicht mehr leer. Wären wir außerhalb der Höhle, was würden wir denn sehen? Doch wohl die Welt, wie sie wirklich ist.
Vielleicht interessiert es Dich, dass sich nach unserer gemeinsamen Lektüre ein paar meiner Fesseln gelockert haben. Vielleicht sehe ich die Bewegung Deiner Finger als Schatten an der Wand und versuche, meine eigenen wiederzufinden und zu zählen. Ich werde ein paar hässliche Betonbauten in meiner geistigen Landschaft nach all dem wohl wieder abreißen und die folgenden Erdrutsche und Überschwemmungen in Heiterkeit abwarten. Bei aller Distanz zum platonischen Idealismus sehe ich doch, dass mir durch die Hinwendung zu den Quellen, aus denen das Christentum sich bereichert hat, etwas von dem wiedergegeben wird, was mir der Pfaffe damals gestohlen hat. Ich werde darin fortfahren, auch wenn damit kein Ende erreicht wird. "Die Wurzeln des Baumes sind verborgen, und doch reichen sie bis zu den Wassern" (Stefan Heym). Zumindest lässt sich eben doch darüber sprechen.
Ich hatte letzte Woche einen miesen Tag. Nach dem dritten durch Aura angekündigten Anfall von Umnachtung nebst Kreislaufzusammenbruch fand ich mich betend auf dem Küchenboden wieder. Es gibt unzweifelhaft Dinge, die größer sind als der Mensch. Ich nehme an, jeder aus unserem Kulturkreis betet, wenn er überwältigt wird, egal, was er sich im Ohrensessel sonst so zusammengereimt hat. Shit happens, es hat sich dann gegeben. Was die letzte Abstraktionsstufe der platonischen Liebe ist, habe ich nur andeutungsweise von außen begriffen. Ich folge dem nicht. Meine Liebe, wenn ich denn welche zu geben habe, gehört nicht dem Gelderwerb, meinem Haustier oder der Kunst, einen leckeren Käse herzustellen. Sie gehört auch nicht dem Urschönen oder sonst einer Idee. Ein höherer Zweck als der Mensch erscheint mir inakzeptabel. So etwas zu veranschlagen und es gegen den Menschen zu wenden scheint mir ein und dasselbe zu sein. Und das passiert unablässig um mich herum soweit ich sehe, in unserer rationalen und zweckorientierten Welt. Wird das Urschöne es heilen und uns erlösen? Oder sollen wir uns im Rahmen unserer Möglichkeiten selbst darum kümmern?
Vielleicht hättest Du eine Hand frei für einen kurzen Händedruck zwischen einer Schwärmerin und einem Weltverbesserer, und wir sollten das berechtigte Gelächter der anderen Kreaturen über dieses Schattenbild nicht krumm nehmen, sondern mit ihnen lachen. Mehr Sinn brauche ich nicht, um über diesen Tag zu kommen. Ich scharre ein wenig an den Wurzeln des Baumes, in dem Du sitzt, aber nicht um ihn zu fällen. Und du wirst mich mit den Früchten des Baumes hoffentlich nicht steinigen.
Thema von Tanoujin im Forum Philosophische Lektüre 1
Liebe Freunde der Weisheit, Hier ein handwerksmäßiger Versuch, die Rede der Diotima abzuspecken und zu gliedern, mit dem Ziel, eine Grundlage für weitere Diskussionen zu schaffen. Der Abschnitt hat im Original 30.200 Zeichen, ich habe ihn auf knapp 8.000 geschrumpft und Henkel zum Wegwerfen drangetackert. Ohne Kopie in die Textverarbeitung ist das natürlich absolut ungenießbar, aber wie soll man sonst dem „Husch-husch“ entgegenwirken?
Unverbindlicher Vorschlag zum weiteren Vorgehen: Kritik an dieser Zusammenfassung und Korrekturen innerhalb dieses Threads.
Verständniserweiternde Anmerkungen (z.B. zur Kopfgeburt der Athene oder zum Ideal der apollinischen Schönheit, Querverweis zum Schiff des Theseus oder zum Höhlengleichnis usw) und Kontroversen bezüglich des Inhaltes (z.B. über die Unfruchtbarkeit des Hässlichen B.4 kontra Adornos „Heideknabe" Minima Moralia 103, oder über die Differenz zwischen Haben und Sein ect.) ev. mit Textbezug neu aufmachen.
Grüße, Tan
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Gliederung – Übersicht
Die Rede der Diotima
A. Eigenschaften des Eros 1. Ein Drittes zwischen den Extremen 2. Ein Dämon 3. Der Sohn von Penia und Poros 4. Ein Philosoph 5. Der Liebende
B. Welchen Nutzen gewährt Eros den Menschen? 1. Streben nach Glückseligkeit 2. Liebe im weiteren Sinn 3. Streben nach dauerndem Besitz des Guten 4. Liebe als Tätigkeit 5. Unsterblichkeit: Gegenstand der Liebe
C. Streben nach Unsterblichkeit 1. Animalische Liebe - Naturbetrachtung 2. Fortdauer durch Zeugung 3. Teilhabe des Sterblichen am Unsterblichen 4. Ehrgeiz, Ruhm und Heldenmut 5. Zeugungslust des Leibes und er Seele 6. Geistige Schwangerschaft
D. Die Mysterien der Liebe 1. Die Stufen der Weihe 2. Erkenntnis des Schönen 3. Das Urschöne 4. Schönheit, Wahrheit, Tugend
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Einleitung: Nachdem Sokrates gezeigt hat, dass Eros nach dem strebt, was er nicht ist und nicht besitzt, führt er die Diotima als seine Lehrerin ein, die ihn betreffs der Liebe belehrt habe, als er noch denselben Standpunkt vertrat wie Agathon im vorangegangenen Dialog.
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Die Rede der Diotima
A.Eigenschaften des Eros
1. Ein Drittes zwischen den Extremen Eros ist nicht schön, nicht gut, nicht weise und auch kein Unsterblicher. Er ist aber auch nicht hässlich, nicht schlecht, nicht unwissend und auch kein Sterblicher, sondern ein Drittes zwischen den Extremen.
2. Ein Dämon Als Mittelglied zwischen Göttern und Menschen ist er ein Dämon von vielen. Durch Vermittlung der Dämonen bindet sich das All mit sich selbst zusammen. Ein dämonenbeseelter Mensch strebt über das Handwerksmäßige hinaus dem Höheren zu.
3. Der Sohn von Penia und Poros Eros ist ein Kind der Armut und des Erwerbs. Daher ist er einerseits arm, rauh und obdachlos, andererseits ein verwegener und beharrlicher Wahrheitssucher. Er leidet weder Mangel noch besitzt er (geistige) Reichtümer, sondern pendelt zwischen den Extremen.
4. Ein Philosoph „Keiner der Götter..." Die Philosophierenden stehen in der Mitte zwischen den Weisen und den Unwissenden. Die Liebe ist auf alles Schöne gerichtet. Weisheit zählt zum Allerschönsten. Folglich ist Eros ein Philosoph.
5. Der Liebende Eros ist das Liebende, nicht das Geliebte. Das Liebenswürdige ist tatsächlich das wahrhaft Schöne, Zarte, Vollendete und Seligzupreisende. Das Liebende trägt aber eine ganz andere Gestalt (s. A.3)
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B. Welchen Nutzen gewährt Eros den Menschen?
1. Streben nach Glückseligkeit Die Liebe begehrt das Schöne. Was wird dem zuteil, welchem das Schöne zuteil wird? Die Frage bleibt vorläufig offen. (s. D.4) Und was wird jenem zuteil, dem das Gute zuteil wird? Er wird glückselig und ist am Ziel seines Strebens.
2. Liebe im weiteren Sinn Jeder Mensch sucht das Gute für immer zu besitzen. So wie „Dichten (poiesis = Machen) eigentlich alle schaffenden Tätigkeiten bezeichnet, umfasst die Liebe im weiteren Sinne alles Streben nach dem Guten und der Glückseligkeit, obwohl im allgemeinen Sprachgebrauch nur ein Teil dieses Strebens mit dem Namen des Ganzen belegt wird.
3. Streben nach dauerndem Besitz des Guten (Seitenhieb auf die Vorrede des Aristophanes). Nichts anderes lieben die Menschen als das Gute.
4. Liebe als Tätigkeit Die der Liebe angemessene Tätigkeit ist die Zeugung im Schönen, dem Körper wie dem Geiste nach. (über die Zeugung, wie gehabt). Die Natur vermag im Hässlichen nicht zu zeugen. Wo es an Einklang fehlt, kann dieser Akt nicht vor sich gehen. Das Hässliche steht im Widerspruch zum Göttlichen und ist deshalb unfruchtbar. Wenn das Zeugungslustige sich dem Hässlichen nähert, dann zieht es sich in sich selbst zurück und wendet sich ab und erzeugt nicht, sondern hält seinen Zeugungsstoff mit Schmerzen an sich.
5. Unsterblichkeit: Gegenstand der Liebe Liebe ist nicht auf das Schöne als solches gerichtet, sondern auf die Erzeugung und Geburt im Schönen. Die Zeugung ist das Ewige und Unsterbliche, soweit dies von Sterblichen erreicht werden kann. Die Liebe in und mit dem Guten muss auch auf die Unsterblichkeit gerichtet sein, da sie nach dem dauernden Besitz des Guten strebt. Also ist die Unsterblichkeit Gegenstand der Liebe.
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C. Streben nach Unsterblichkeit
1. Animalische Liebe - Naturbetrachtung Der heftige Zeugungstrieb der Tiere ist ebensogut auf die Aufzucht des Erzeugten gerichtet wie auf die gegenseitige Vermischung. Die Tiere zerreißen sich für ihren Nachwuchs. Bei den Menschen könnte man glauben, dass dies aus Überlegung geschieht. Bei den Tieren liegt der Grund eindeutig darin, dass die sterbliche Natur nach Vermögen zur Fortdauer und Unsterblichkeit drängt. Sie kann nur durch Zeugung an der Unsterblichkeit teilhaben, indem sie ein Junges von derselben Art anstelle des Alten zurücklässt.
2. Fortdauer durch Zeugung Obwohl man von jedem einzelnen Wesen sagt, es sei von Geburt bis zum Tod ein und dasselbe, ist es doch so, dass es sich in allen Teilen ständig erneuert und das Alte abwirft. So ist es mit dem Körper und auch mit der Seele (Charakter, Gewohnheiten, Meinungen, Begierden, Freude, Schmerz, Furcht). Auch im Bezug auf die Erkenntnisse sind wir niemals dieselben, und sogar die Erkenntnisse selbst unterliegen dem ständigen Wechsel des Vergessens und Erinnerns.
3. Teilhabe des Sterblichen am Unsterblichen Alles Sterbliche erhält sich dadurch, dass das Abgehende und Veraltete stets ein anderes, Neues von derselben Art wie es selber war zurücklässt. Durch dieses Mittel hat das Sterbliche Teil an der Unsterblichkeit. Das Göttliche dagegen erhält sich, indem es beständig und überall dasselbe bleibt.
4. Ehrgeiz, Ruhm und Heldenmut Sokrates wundert sich und fragt Diotima, ob sich dies denn auch wirklich so verhalte. Die Antwort ist als sophistisch ausgewiesen: Der Ehrgeiz unter den Menschen wäre vernunftwidrig, wenn es nicht darum ginge, sich einen großen und unsterblichen Namen zu machen. Dieser Ehrgeiz übertrifft noch die Sorge um den Nachwuchs. Für den unsterblichen Ruhm ihres Heldenmutes und für ein ehrenvolles Andenken nehmen all die größten Opfer und Mühen in Kauf, um so mehr, je edler sie geartet sind: denn sie lieben das Unsterbliche. (Anklang an Ahnenkult und Sippenzugehörigkeit - lässt sich das als Kritik an der Aristokratie deuten?)
5. Zeugungslust des Leibes und er Seele „Diejenigen [Männer], welche dem Leibe nach zeugungslustig sind, wenden sich mehr zu den Weibern und suchen bei ihnen ihrer Liebe Befriedigung, um sich durch die Zeugung von Kindern Unsterblichkeit, Andenken und Glückseligkeit für alle Folgezeit, wie sie meinen, zu erwerben;" Die aber, die es der Seele nach sind, erzeugen, was der Seele zukommt: Weisheit und alle andere Tugend. Es sind die schaffenden Künstler (s. B.2: poiesis), unter ihnen besonders die Verwalter von Staat und Hauswesen. Weisheit höchster Teil: maßhaltende Besonnenheit und Gerechtigkeit.
6. Geistige Schwangerschaft Wenn jemand von Jugend auf in seinem Geiste schwanger geht und in die Jahre kommt, sucht er nach dem Schönen, in welchem er fruchtbar werde. Trifft er eine schöne Seele in einem schönen Körper, umfasst er beides in außerordentlicher Liebe. Er sucht seinen Liebling zu bilden und gebiert und erzeugt so, womit er schon lange schwanger ging „indem er anwesend und abwesend sich seiner erinnert". In Gemeinschaft mit ihm zieht er das Erzeugte auf, darauf gründet sich die festeste Freundschaft, „weil sie ja schönere und unsterblichere Kinder miteinander gezeugt haben" als es die leiblichen Kinder je sein könnten. Beispiele solcher Kinder und ihrer geistigen Väter: die Dichtungen von Homer und Hesiod, die Gesetzgebungen von Lykurg und Solon.
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D. Die Mysterien der Liebe
1. Die Stufen der Weihe: 1.1. In der Jugend liebt man unter richtiger Leitung einen schönen Körper und erweist sich an diesem fruchtbar in schönen Reden. 1.2. Man kommt zur Einsicht, die Schönheit an allen Körpern für ein und dieselbe zu erkennen und wird damit Liebhaber aller schönen Körper. 1.3. Man lernt die geistige Schönheit für weit schätzbarer achten als die des Körpers, lässt geringe körperliche Reize genügen und pflegt & fördert eine liebenswürdige Seele 1.4. Einsicht in die Verwandtschaft des Schönen in den Bestrebungen, Sitten und Gesetzen bei vergleichsweiser Geringfügigkeit des körperlich Schönen führt zur Tugend. 1.5. Man lässt sich von den Bestrebungen zu den Wissenschaften leiten, um deren Schönheit zu erkennen - nicht mehr im Einzelnen, sondern in der Fülle der Erscheinungen. 1.6. Die Fülle des Weisheitsstrebens wird auf eine einzige Erkenntnis des Schönen zusammengefasst.
2. Erkenntnis des Schönen Das höchste Schöne ist ein beständig Seiendes, etwas absolutes und abstraktes, „rein in sich und für sich und ewig sich selber gleich". Alles andere Schöne hat daran nur in der Weise Teil wie das Werdende / Vergehende am Ewigen / Enthobenen.
3. Das Urschöne Von der rechten Knabenliebe führt der Weg bis zum Erkennen des Urschönen. Von einem zu allen schönen Körpern, weiter zu den schönen Bestrebungen, zu den schönen Erkenntnissen - bis man innerhalb der Erkenntnisse bei jener Erkenntnis endet, die das allein wesenhaft Schöne erkennt.
4. Schönheit, Wahrheit, Tugend Die Betrachtung des Ansichschönen gibt dem Menschenleben einen wahrhaften Wert. Das Göttlichschöne in seiner ureigenen Gestalt ist „nicht verunreinigt mit Fleische und Farben und allem übrigen irdischen Tande". Wer das Schöne mit dem Auge anschaut, welchem es allein wahrhaft sichtbar ist, verbindet sich mit der Wahrheit. Da er ja nicht an einem Schattenbild haftet, wird er nicht bloße Schattenbilder der Tugend gebären und auferziehen, sondern die wahre Tugend. So wird es ihm gelingen, ein Gottgeliebter zu werden, und wenn irgendeinem Menschen, so auch ihm unsterblich zu sein.
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Sokrates spricht ein knappes Schlusswort, das war's
Dive, Du bist zu gut zu mir! Ich hab herausgefunden dass ich Dilthey und Popper lesen müsste, um dem Thema gerecht zu werden . Vielleicht auch was Leichtverdaulicheres zur Erkenntnistheorie, ich hab nämlich auf einmal keine Ahnung mehr, was Wahrheit eigentlich ist. Bin scheinbar leicht zu beeindrucken. Meinen Dringlichkeitsantrag lass ich natürlich fallen. Herzliche Grüße, Tan
Thema von Tanoujin im Forum Philosophische Lektüre 1
Auszug aus „Orestes“, aufgeführt im Jahr 408 v. Chr., vermutlich bei der letzten Teilnahme des Euripides am tragischen Agon der Großen Dionysien. Ausgabe und Übersetzung: Textgrundlage von Gustav Adolf Seeck, die den Text der alten Oxford-Ausgabe von Gilbert Murray mit der Übersetzung von Ernst Buschor vereinigt. Forschungsstand 1972-81; Herausgeber: Bernhard Zimmermann im Verlag Artemis und Winkler 1996.
Zweite Hauptszene, Auftritt Tyndareos
ZITAT
Chorführer: Auf alten Füßen müht sich Tyndaros, Der Fürst aus Sparta, her, im schwarzen Kleid Und kurzem Haar: er trauert um sein Kind.
Orestes: Ich bin verloren, diesem Tyndaros, Der hier erscheint, kann ich nach allem, was Ich tat, am wenigsten ins Auge schaun. Er hat mich aufgezogen, immer mich Liebkost, hat Agamemnons Kind im Arm Getragen, er und Leda haben mich Mit ihren Dioskuren gleichgeliebt. Wie hast du, meine Seele, armes Herz, Es ihnen schlecht gelohnt! In welche Nacht Hüll ich mein Antlitz, welche Wolke schieb Ich vor, dass mich des Alten Blick verschont?
Tyndareos: Wo, wo ist Menelas, mein Tochtermann? Ich spendete auf Klytaimestras Grab, Da hört ich: glücklich ging er mit der Frau Nach langer Fahrt in Nauplia ans Land. Führt mich in seine Arme, denn ich will Ihn küssen, nach so langer, langer Zeit.
Menelaos: Des Zeus Genosse, Alter, sei gegrüßt! Tyndareos: Gegrüßt auch du, mein Eidam Menelas!
(er sieht Orestes)
Doch hier, ein bitter unverhofftes Bild! Der blutge Drache, mir ins Mark verhasst, Schnaubt seine bösen Flammen vor dem Haus! Wie kannst du mit ihm reden, Menelas?
Me: Warum? Sein Vater war mein nächster Freund. Ty: Von solchem Vater stammt ein solcher Sohn? Me: Und darf ins Unglück nicht verstoßen sein! Ty: Die Fremde nahm dir deinen Griechensinn. Me: Der Grieche achtet das verwandte Blut. Ty: Und stellt sich niemals über das Gesetz. Me: Der Weise unterwirft sich der Natur. Ty: Mit solchen Lehren bleibe mir vom Leib! Me: Dein Zorn und graues Haar verblenden dich!
Ty: Kann hier von Weisheit noch die Rede sein? Wo jeder weiß, was gut ist und was nicht, Frug dieser Mann im reinen Unverstand Nicht nach Gesetz und altem Griechenrecht. Als Agamemnon einst sein Leben ließ Von meiner Tochter Beilhieb auf sein Haupt (Der Untat, die ich nicht beschönen kann), Mußt er sie rufen vor ein Blutgericht Und Sühne heischen und sie aus dem Haus Verstoßen. Maß statt Willkühr, gutes Recht Hätt er geübt und gälte allen fromm. Nun rief er ihren eignen Daimon an. Und der mit Recht der Mutter Bosheit schalt, hat mit dem Muttermord sie noch besiegt. Noch dieses eine höre, Menelas: Erschlüge diesen Mann sein Eheweib Und dann sein Sohn die mörderische Frau, Und sühnte dann sein Enkel Mord mit Mord, Wo fände dieses Töten je sein Ziel? So setzten unsre Väter guten Brauch: Kein Blutbefleckter kommt uns zu Gesicht Noch sprechen wir ihn an; mit Acht und Bann Hält man ihn fern und nicht mit frischem Blut, Sonst wäre jeder neuem Tod geweiht, Der seine Hand zuletzt in Blut getaucht. Ich hasse jedes frevelhafte Weib, Voran die Tochter, die den Mann erschlug; Auch Helena, dein Weib, die wenig taugt, Sprech ich nicht an und schwer bedaur ich dich, Daß du für solche Frau nach Troja fuhrst. Mit ganzen Kräften helf ich dem Gesetz Und will nicht, dass man wilden Tieren gleich Im Blutdurst Stadt und Land zur Öde macht.
(zu Orestes)
Unseliger, wie war dir da ums Herz, Als deine Mutter flehend ihre Brust Darbot? Ich hab es nicht mit angesehen, Doch schmolz in Tränen mir das alte Aug. Schon dies macht alle meine Worte wahr: Die Götter hassen und verdammen dich! Und schlagen dich mit Angst und Wahnsinn. Braucht Es einen Zeugen, wo du vor mir stehst?
(zu Menelaos)
So höre: trotze diesen Göttern nicht! Und steh ihm nicht zur Seite, Menelas! Laß von den Bürgern ihn gesteinigt sein, Sonst bleibe meinem Sparta ewig fern! Hat meine Tochter schon den Tod verdient, So sicher nicht von seiner Mörderhand. Das Glück hat all mein Leben gut bestellt – Nur nicht mit Töchtern! Da verließ es mich.
Chorführer: Wohl dem, der Freude an den Kindern hat Und nicht durch sie zum Spott der Leute wird!
Orestes: Vor meiner Antwort trag ich selber Furcht, Da sie dein Herz nur tief betrüben kann. Stünd nicht dein Alter vor mir, das den Mund Mir zügelt, ging ich freien Weg; So aber scheue ich dein weißes Haar. Als Muttermörder bin ich zwar verfehmt, Als Vaters Rächer zeig ich keinen Fehl. Was sollt ich tun? Versteh den Gegensatz: Mein Vater schuf mich, deine Tochter trug, womit ein Fremder ihre Flur bepflanzt, Sein Same nur verhalf ihr zur Geburt, Ich glaubte, dem Bewirker dieser Frucht Mehr zu entstammen als der Nährerin. Und soll dein Kind noch meine Mutter sein, Die frech der Ehe Heiligkeit entweiht? Wenn ich sie schmähe, schmähe ich mich selbst, Doch solls gesagt sein: heimlicher Gemahl Im Hause war Aigisthos. Diesen schlug Ich tot, die Mutter folgte hinterdrein. Wars Unrecht, war es doch Sohnespflicht. Du hast mich mit der Steinigung bedroht, Wo meine Tat ganz Griechenland befreit! Wenn sich das Frauenvolk so weit versteigt, Die Männer mordet, zu den Kindern flieht Und Mitleid fordert mit entblößter Brust, Ist Gattenmord bald eine Kleinigkeit; Ein Vorwand findet sich. Mit meiner Tat, Die dich empört, beend ich solchen Brauch. Mit Recht erschlug ich das verhasste Weib, Das einen Gatten, der in Waffen stand, Den Führer des gesamten Griechenheers, Verriet und nicht sein Bett in Ehren hielt. Als sie es einsah, hat sie nicht sich selbst Gerichtet, nein dem Urteil zu entgehn, Hat sie den Mann gestraft und umgebracht. Ihr Götter (wenn ihr einen Mörder hört), Wie sollt ich dulden dieser Mutter Tat? Wie konnt ich fliehen vor des Toten Groll, Vor seiner Rachegeister wilder Jagd? Stehn diese Rächer nur der Mutter bei, Nicht ihm, der größres Unrecht litt als sie? Du hast die üble Tochter selbst gezeugt, Die mich verdarb, die mir den Vater nahm Und mich zum Muttermörder werden ließ. Odysseus’ Gattin fiel nicht von der Hand Des Telemach: im unbefleckten Bett Nahm sie zum Manne keinen Mann hinzu. Sieh auf Apollon, der am Nabelstein Aus wahrstem Mund die Menschen unterweist. Und dem wir jeden Glauben schuldig sind: Auf sein Geheiß schlug ich die Mutter tot. Er ist der Frevler, den ihr töten müsst, Er hat gefehlt, nicht ich. Was konnt ich tun Ich zeig auf ihn, dem Gotte fällt es zu, Den Fleck zu tilgen! Wohin wend ich mich, Wenn der Befehler nicht mein Retter ist? Kein Mensch wird leugnen: diese Tat war gut, Doch dem Vollstrecker brachte sie kein Glück! Wes Haus in vollen Ehren steht, der führt Ein selges Leben; wems zerrüttet ist, Hat drin und draußen keinen guten Tag.
Chorführer: Stets ist die Frau dem Mann das Hindernis, Das schwere Tage ihm noch schwerer macht.
Tyndareos: Jetzt wirst du frech, gibst lose Antwort, die Mich nur verletzt und nur von neuem treibt, Dich mit dem Tod zu strafen. Ja, das wird Das rechte Nachspiel meines Opfergangs, Der schönste Schmuck für Klytaimestras Grab! Ich trete selbst vor Argos’ Bürgerrat Und treib ihn, mag er wollen oder nicht, Zu deiner und der Schwester Steinigung. Noch mehr als du hat sie den Tod verdient! Sie hetzte gegen eure Mutter, blies Feindselig spitze Reden in dein Ohr Von Agamemnons Traumbild, von Aigisths Buhlschaft, die allen schon so bitter war Und die im Hades ihren Lohn empfängt. So schürte sie des Hauses finstre Glut. O höre, Menelas, was ich beschloß: Willst du mein Freund und mein Verwandter sein, So falle nicht den Göttern in den Arm, Laß unser Volk die beiden steinigen, Sonst bist von Sparta ewig du verbannt! Vernimm es: wähle deine Freunde nicht Aus Frevlern! Beßre stehen dir bereit! Und nun geleitet mich aus diesem Haus!
Ja, mag sein. Danke, Dive! Aber der "Aufsichtsbeamte" meint ja eigentlich, dass bei unplanmässigen Aufenthalten das Ein- und Aussteigen untersagt ist, wahrscheinlich gilt da aus Haftungsgründen dasselbe wie bei Halt auf freier Strecke. Heute würde die zentralgesteuerte Verriegelung der Türen das ganz automatenhaft verhindern, damals waren dazu noch autoritäre Weisungen nötig. Es lebe der Fortschritt! Meinst Du nicht, dass der Reisende mit seinem Rückgriff auf die wahre Implikation mit falschem Vorder- und Hinterglied in sophistischer Weise die Autorität wegreduziert? Unsympathisch ist das ja nicht. Grüsse, Tan
P.S. Präziser: Der R. tauscht das "dürfen" des AB. gegen ein "können" aus. Er sagt also "Wenn der Zug hier nicht hält, so kann ich auch nicht eingestiegen sein". Ernsthafte Frage: seh ich das richtig? Vielleicht fällt es ja nicht mehr unter die Definition "Sophismus", aber trotzdem ist es doch ein Trick, oder?
Ich hab das Beispiel aus Albert Mennes berühmter Einführung in die Logik, 6. Auflage. Dort steht es als Beispiel für eine Implikation. Die Sache mit dem Regen und der nassen Strasse hab ich durchaus kapiert, ich kann ja auch einen Eimer Wasser ausschütten. Meint Menne, ich kann auch auf einen fahrenden Zug aufspringen? Wow!
Ist denn der Halt des Zuges (mit entriegelten Türen) nicht zugleich hinreichende und notwendige Bedingung dafür, dass ich einsteigen kann? Das wäre dann eine Äquivalenz. Ist meine Auflage fehlerhaft, oder habe ich einen Denkfehler gemacht? Falsch formalisiert? Bitte lasst mich nicht dumm sterben, ich weiß es wirklich nicht. (Unter der Terrorherrschaft der Fakes muss man das ja immer dazusagen).
Harmony, so hab ich das noch gar nicht gesehen! Also gut, Du hast gewonnen. Tatsächlich kann ich einiges daraus lernen. Womit beschäftigst Du Dich denn gerade? Ich könnte gerade auch etwas Abwechslung vertragen.
Beste Grüsse, Tan
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Ja, man könnte bis in alle Ewigkeit so weitermachen oder auch alles hinwerfen, weil es langsam langweilig wird oder weil es unterschiedliche Meinungen gibt, die anscheinend nicht hintergehbar sind, ohne dabei Tabus zu verletzen.
Ich räume ein, dass es so sein könnte, dass zwei Liebende vom Schicksal füreinander bestimmt sind. Für mich ist das eine offene Frage. Wir wählen doch alle bestimmte Leitvorstellungen für unser Dasein und versuchen sie wahr zu machen. Definiere ich damit die Orientierung an einer schicksalhaften Bestimmung um zu einem Modus, der frei wählbar ist und trickse damit mein Gegenüber aus? Absolut freier Wille oder totale Determination? Auch wenn vom eigenen Erleben wegabstrahiert wird, bei den ethischen Konsequenzen stellen sich die persönliche Fragen erneut. Diskutieren wir das doch woanders.
Ebenso räume ich ein, dass es nicht angemessen ist, Sokrates zum Superhelden zu machen und Aristophanes zum Buhmann. Das ist sicher eine Verfälschung, nehme ich auf meine Kappe. Die Frage, warum Platon seinen Sokrates so darstellt, speziell hier in der erzählten Erzählung einer Erzählung, verdient es ebenfalls, festgehalten zu werden.
Mit Agathons Rede und dem folgenden Wortwechsel wäre die letzte Schicht vor Diotima erreicht, und damit das Ziel dieses Threads, wenn auch nicht das Ende, falls sich noch jemand hierher verirrt und Anmerkungen hinterlässt. Ich hänge es gelegentlich noch dran, wenn niemand zuvorkommt. Der Zehnpfennig-Text enthält ja schon die wesentlichen Hinweise. Eigentlich wollten wir doch anhand Diotimas Rede etwas über die Philosophie erfahren? Vielleicht macht ja jemand neu auf damit.
Grüsse, Tan
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Agathon
Hält eine schöne Rede, „in welcher sich der Scherz mit dem nötigen Ernste […] vereinigt“ und erntet Beifallsjubel.
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Einleitung: Das richtige Verfahren für eine Lobrede ist, zuerst den Eros, wie er an sich beschaffen ist, und dann seine Gaben zu preisen.
1. Beschaffenheit: Eros ist der glückseligste von allen, weil er der schönste und beste ist.
1.1 Schönheit: Eros ist jung, weil er das Alter flieht und seine Herrschaft von der zu Grausamkeit neigenden Notwendigkeit erbt. Er ist zarter als die Verblendung, weil er nicht auf den harten Köpfen, sondern in den weichsten Gemütern und Seelen wandelt. Er ist ebenmäßig, geschmeidig und von edlem Anstand, weil sich die Liebe nur mit der Anmut verträgt. Er ist schön, da er unter den Blüten verweilt, blütenarme oder verblühte Leiber und Geister dagegen meidet.
1.2 Tugend Gewalt berührt den Eros nicht, denn freiwillig dient ihm ein jeder in jedem. So tut er weder Unrecht noch leidet er es, und ist daher gerecht. Er herrscht über die Lüste und Begierden, also ist er besonnen. Er hält Ares in der Liebe zu Aphrodite gefangen, also ist er der Allertapferste. Aus Eifer und Liebe zur Sache werden die Künste erfunden, also spendet Eros Weisheit. Die schöpferische Zeugung aller Lebewesen entspringt seiner Weisheit. Man kann nur geben, was man selber hat, also ist Eros weise.
2. Gaben Im Hässlichen waltet der Eros nicht. Seit er geboren war, erwuchs aus der Liebe zum Schönen alles Gute für Götter und Menschen: Frieden, Freundschaft, Vertraulichkeit, Mildheit, Wohlwollen, Huld, Wohlleben, Pracht, Kostbarkeit, Anmut, Reiz, Verlangen, Beistand, Hilfe, Rettung, Zier, Führung, Bezauberung.
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Allgemeines Konstruktionsmerkmal: „gleich und gleich gesellt sich gern“. Enthält den platonischen Tugendkatalog, wie nett. Die Besonnenheit scheint ein wenig zu hinken, nicht wahr?
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Last Orders
Sokrates hält eine Vorrede: Die Schönheit von Agathons Vortrag ist nicht zu überbieten, da er seinem Gegenstand das Größte und Schönste zugeschrieben hat, ohne Rücksicht darauf, ob es wahr ist oder nicht. Er wird darin nicht fortfahren, sondern, falls erlaubt, in beharrlicher Einfalt die Wahrheit sagen über das, was er loben will, und auf dieser Grundlage das Schönste auswählen und es möglichst angemessen anordnen.
Die Runde fordert ihn auf, so zu reden. Phaidros gestattet einen Wortwechsel mit Agathon.
Wortwechsel Sokrates/Agathon:
Liebe ist erstens Liebe zu etwas, und zweitens zu dem, woran sie Mangel leidet. Der Mangel ist notwendige Voraussetzung des Begehrens. Wer das Vorhandene begehrt, will es auch in Zukunft besitzen. Auch dieser Begehrende begehrt also „nach dem, was noch nicht in seiner Gewalt steht und für ihn noch nicht vorhanden ist und was er nicht besitzt und was er nicht ist und wessen er ermangelt, und von dieser Art ist alles das, worauf Begierde und Liebe gerichtet sind."
Das Schöne wird geliebt, zum Hässlichen gibt es keine Liebe. Liebe ist also immer Liebe zur Schönheit, nicht aber zur Hässlichkeit. Folglich entbehrt der Eros der Schönheit und besitzt sie nicht. Das Gute ist schön. Wenn also der Eros des Schönen ermangelt, das Gute aber schön ist, so ermangelt er auch den Guten.
Agathon stimmt all dem zu. Der Wahrheit kann er nicht widersprechen. Trotzdem war seine Rede schön.
Diskussionsangebote Liebe ist eine Relation. A kann B und C lieben, und auch D kann B und C lieben. A liebt B, weil B etwas hat, das von A begehrt wird.
Das was A begehrt könnte eine Substanz sein oder auch eine Eigenschaft (z.B. der Eigenschaft, an einem bestimmten Prozess teilzuhaben) - ist damit das Feld dessen, was begehrt werden kann, vollständig abgedeckt?
A leidet Mangel an etwas, sonst würde er es nicht begehren. Dieses Etwas findet er durch Hinwendung zu B. Möglicherweise hat auch A etwas für B Begehrenswertes, in diesem Fall ist die Relation wechselseitig.
Die Hinwendung zur Quelle dessen, was dem Begehrenden fehlt, ist Mittel zum Zweck, einem Mangel abzuhelfen. B kann selbst das Begehrte sein, oder auch das Begehrte vermitteln. Die Liebe ist Erfüllung eines Begehrens. Das Vorhandene zu begehren, bedeutet, diese Erfüllung auch für die Zukunft zu begehren.
Da der Mangel die Liebe bedingt, wohnt der Eros im Liebenden und teilt seine Bedürftigkeit. Die Relation geht von dem aus, der Mangel leidet, nicht von der Fülle dessen, was geliebt wird.
Im „Mangelmodell" gibt es also nur dann eine polare Anziehung der Gegensätze, wenn mindestens ein Pol etwas „hat", was dem Gegenstück fehlt.
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„Begehren", der Einsatz von „Mitteln", um einem Mangel abzuhelfen und „Besitz von" oder „Gewalt über" erfordern Bewusstsein und planenden Willen. Das Mangelmodell funktioniert aber auch unter Vernachlässigung von Absichten oder bewussten Zielvorstellungen. Es funktioniert sogar entgegen bewusster Absichten, z.B. der Absicht 10 Minuten lang die Luft anzuhalten. Hunger, Durst und Einsamkeit beschreiben Mangelzustände. Völlig isolierte Menschen zeigen bald psychische und als Folge davon körperliche Störungen, auch wenn ihnen sonst nichts fehlt. Umgekehrt ist ein Mangel an Vertrautheit oder an Rückzugsmöglichkeiten bei massenhaftem Kontakt ebenfalls ungesund. Der Mangelbegriff berührt die Selbsterhaltung von Systemen unter sich ändernden äußeren Bedingungen.
Hier taucht die Frage nach einem „höheren Willen" auf. Es ist möglich, die Absichten und Zielvorstellungen einem höheren Wesen zuzuschreiben. Dann hätte z.B. „die Natur" etwas „weise eingerichtet", wenn eine einzellige Grünalge aktiv einen gut beleuchteten Ort besetzt, um einen günstigen Zustand für ihren Stoffwechsel zu erreichen und zu halten. Dass die Alge selbst das „will", wird wohl niemand behaupten, oder doch? Es geht die Rede, die „Natur" würde unter massenhaften Opfern „lernen". Andere reden von Anpassung, Selektionsdruck und Evolution.
Es wäre auch möglich, aus den Eigenschaften der Materie ein Modell zu entwickeln. Dann wäre z.B. nach dem Bohrschen Atommodell die Eigenschaft des Natriums und des Chlors, sich durch Austausch eines Elektrons gegenseitig zur Edelgaskonfiguration zu verhelfen, ursächlich dafür, dass Natrium in Chloratmosphäre zu kubisch-kristallinem Kochsalz verbrennt. Warum soll man bei einer derart allgemeinen Definition des Eros die Chemie nicht als Liebeslehre der Elemente betrachten dürfen? Das naturwissenschaftliche Modell ist heute in der Lage, „von unten herauf" alles an unserer Grünalge vollständig und lückenlos zu beschreiben und zu erklären.
Fährt man mit dieser ungezügelten Betrachtung fort, erweist sich der Eros als kosmische Urkraft, auf die scheinbar jede Wechselwirkung oder Interaktion zurückzuführen ist als vermittelte Bewegung auf einen günstigen Zustand hin.
Das ist zwar einerseits höchst beeindruckend, andererseits fällt es mir schwer, das Gute und Schöne darin zu erblicken, dass ein Rudel Hyänen eine kränkelnde Antilope bei lebendigem Leib in Stücke reißt. Es ist eben so. Warum muss ich darauf ein menschliches Werturteil anwenden? Ist es nicht etwas sonderbar, das als erotische Beziehung zu deuten? Vielleicht ist die Antilope in den Augen einer Hyäne ein schönes Stück Beute. Vielleicht ist die erfolgreiche gemeinsame Jagd in ihren Augen das höchste Gut. Kein Mensch kann wissen, wie es ist, eine Hyäne zu sein, oder doch? Sie hat Bewusstsein. Hat sie auch einen planenden Willen?
Es gibt Leute, die das Bewusstsein als wirkungslosen Nebeneffekt betrachten. Von diesem Standpunkt aus gibt es keinen besonderen Unterschied zwischen der Grünalge, der Hyäne und dem Menschen. Falls Naturwissenschaft eines Tages das Bewusstsein „von unten herauf" vollständig und lückenlos beschreiben und erklären kann, so hängt davon nicht viel ab, da es die entscheidenden Vorgänge nur spiegelt, ohne sie zu beeinflussen.
Nimmt man hingegen an, dass Bewusstsein Einfluss auf physische Ereignisse hat und es innerhalb bestimmter Grenzen Entscheidungsfreiheit gibt, dann ist es für uns als MENSCHEN von grundlegender Bedeutung, welche Begriffe wir uns von der Wahrheit, dem Guten und dem Schönen machen und in welches Verhältnis wir sie zueinander setzen.
Wie es aussieht, markiert dieses Dreigestirn das höchste, was wir erstreben können. Sieht man sich an, was bereits alles im Namen dieser Drei geschehen ist, könnte man auf die Idee kommen, sich besser nicht gleich unkritisch davor auf die Knie zu werfen. Wenn wir es feiern wollen, sollten wir uns zuvor fragen, was das WGS bei Sokrates/Platon genau bedeutet, und was wir davon halten. Wir laufen sonst Gefahr, selbstzufrieden in einer philosophischen Idylle den Mangel zu feiern.
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Das Schöne: Bei Agathon war Schönheit das Junge, Zarte und Anmutige. In Sokrates’ Entgegnung scheint das Schöne fallweise genau das zu sein, was wir aufgrund unseres Mangels haben und behalten wollen. Ein sehr umstrittener und (für mich) schwieriger Begriff, der auf die Ästhetik und die Künste führt. Agathons Rede war schön, stand aber im Widerspruch zur Wahrheit. Die Schönheit der Form garantiert nicht die Richtigkeit des Inhalts. Eros ist nicht der Glückseligste, der Schönste und der Beste, sondern er strebt danach. Agathon hat hier also nicht etwas Wahres gesagt und es nur falsch begründet, sondern seine Rede ist trotz aller Schönheit in der Hauptaussage falsch, wie er bereitwillig einräumt.
Das Gute: Bei Agathon zeigt sich das Gute in den vier Tugenden Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit. Laut Sokrates ist das Gute immer auch schön. Diese Sicht erfordert ein gerüttelt Maß an Einsicht, sie ergibt sich nicht gerade von selbst. Vieles, was gut ist, erscheint ja zunächst als „notwendiges Übel“. Und tatsächlich bestimmt Sokrates als höchstes Gut (im antiken Verständnis „Glückseligkeit“) die Einsicht. Bei Platon ist es ein tugendhaftes Leben, sagt das Lexikon. Für uns „Moderne“ gibt’s ja inzwischen Menschenwürde und dergleichen. Übrigens steht in den Blättern für deutsche und internationale Politik 8’04 ein schöner Artikel von Heiner Bielefeldt: „Folter im Rechtsstaat“. Hat jemand Lust, darüber zu reden?
Das Wahre: Tja. Erkenntnislehre. An die Genossen von „Hermeneutik oder Logik der Forschung“: seid doch bitte nicht so exklusiv und sagt gleich, dass man Dilthey und Popper lesen soll! Ich beantrage Rosen und Brot für alle und einen AK „Was ist Wahrheit“. Ein Schriftkundiger möge sich erbarmen und mir in Platons gesammelten Werken die wichtigsten für dessen Wahrheitsbegriff relevanten Stellen nennen. (Sonst dauert es wahrscheinlich etwas länger).
Angelia, das muss ich erstmal verdauen. Wie hab ich es denn geschafft, den Eindruck zu erwecken, Dich festnageln zu wollen? Vielleicht bist Du in mir dem Hässlichen begegnet. Ich werd mal ablassen, wie Du vorschlägst.
Folgendes zur Überprüfung:
Harmony behauptet, Sokrates genießt seine allgemeine Beliebtheit und hat Freude daran, im Mittelpunkt zu stehen. Ich behaupte, er genießt es nicht unbedingt.
Betreibt Sokrates seine Sache, um beliebt und bekannt zu sein, oder hat er andere Gründe? Wenn es nicht Beliebtheit ist, sondern zum Beispiel, die Beliebigkeit des Sophismus zu überwinden, lassen sich Fälle konstruieren, in denen seine Beliebtheit in Konflikt zu seiner Motivation steht.
Angenommen, Sokrates möchte die Künste der Rede, des Behauptens, Beweisens und Widerlegens auf die Wahrheit lenken? Dann wird er seine Beliebtheit im Zweifelsfall dem opfern was er für richtig hält und lieber die Wahrheit als sich selbst im Mittelpunkt sehen.
Belege dafür lassen sich in der Biografie finden (die ich noch nicht ausreichend kenne), denn er wird ja verurteilt werden von den Demokraten, die noch am ehesten seine „Partei“ wären und sich hinrichten lassen, statt die Gelegenheit zur Flucht zu ergreifen.
Unser Text lässt darauf schließen, dass er die Wahrheit liebt, vielleicht hat Platon a.a.O. seine Motivation noch bündiger niedergelegt? Wo steht es am deutlichsten im Symposion? Ich habe den flüchtigen Eindruck, dass die Wahrheit nicht so leicht in Besitz zu bringen ist. Sie muß immer wieder neu gefunden werden. Wir bedürfen der Wahrheit, um entscheiden zu können, was richtig und angemessen ist. Wer das will, wird die Wahrheit lieben, weil er an ihr Mangel leidet. Das mag sich am Ende als umwerfend schön erweisen, Schönheit allein kann aber, ebenso wie das Hässliche, ein Trugbild sein. Das ist mein vorläufiges Verständnis der Rede Diotimas.
Dass Beliebtheit nicht mit Sicherheit zur Wahrheit führt, meine ich aus der Stelle auf S.10 entnehmen zu können: Sokrates: „Das wäre eine schöne Sache, lieber Agathon, wenn es mit der Weisheit eine solche Bewandnis hätte, dass sie aus dem Volleren von uns in den Leereren hinüberflösse, wenn wir miteinander in Berührung kommen, gleichwie das Wasser durch einen Wollstreifen aus dem volleren Becher in den leeren hinüberfließt.“ An Alkibiades zeigt sich ja zuletzt, dass das so nicht funktioniert.
Dass er sich selbst nicht so wichtig nimmt und es ihm vor allem um die Wahrheit geht, zeigt die Stelle auf S.69: „Ich kann dir, lieber Sokrates, nicht widersprechen, habe Agathon erwidert; sondern möge es sich so verhalten, wie du sagst! Nicht doch, warf ihm Sokrates ein, sondern der Wahrheit vermagst du nicht zu widersprechen, mein teurer Agathon; mit dem Sokrates würde dir dies dagegen ein Leichtes sein.“
Dass die Suche nach der Wahrheit ein mühsames und riskantes Geschäft sein kann, in dem Sokrates davon abhängig ist, was die anderen tun, belege ich mit folgender Stelle (S.50): „Du hast eben deine Sache gut gemacht, mein Eryximachos; wenn du aber da ständest, wo ich jetzt, oder vielmehr wohl, wohin ich werde zu stehen kommen, wenn auch Agathon erst gesprochen hat, dann würdest du gar sehr fürchten und in der größten Not sein, ebenso gut wie ich jetzt selber.“
Ich hoffe, damit seinen Konflikt zwischen Wahrheit und Beliebtheit belegen zu können, solltest Du aber, Harmony, das Angeführte zur bescheidenen Pose eines Eitlen erklären, strecke ich machtlos die Waffen.
Angelia, mir scheint ich bedarf einer kleinen Einführung in die Metaphysik, um die Begrenzungen meiner materialistischen Einstellung nicht länger als Scheuklappen empfinden zu müssen. Jedenfalls wäre es mir arg, wenn Du in Deinem Erleben mystischer Einheit am Meer oder sonstwo verunsichert wirst, weil irgendein unzureichender Logos Deine Quellen verschüttet.
Vielleicht hast Du ja Zugang zu den von Diotima beschriebenen Mysterien. Ich glaube nicht, dass Du das Gefühl, Teil des großen Ganzen zu sein opfern musst, um über Aristophanes hinauszugehen. Fällt Dir denn der Verzicht auf das blinde Wüten des Schicksals, das nur Wenige auszeichnet und die Mehrheit verwirft, so schwer? Ist es andererseits so beunruhigend, aus dem Denken heraus in Aussicht gestellt zu bekommen, aus dem Gegebenen das Beste machen zu können, statt sich demütig mit einer im Lotteriemodus ausgeteilten Annäherung an die einzig wahre Liebe zufrieden geben zu müssen?
Ich lese ebenfalls noch mal. Tragen wir das erst aus, bevor wir durch Agathon gehen, ich möchte Dich nicht überwalzen.
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Harmony, 2 Narren, ein Gedanke! . Für deine frevelhafte Behauptung muss ich erst nach Gegenbelegen suchen, zieh Dich schon mal warm an.
Zum Mythos der geteilten Seelen: Deine Enttäuschung geht mir nahe. Ich bedaure, nicht sorgfältiger vorgegangen zu sein. Na prima, löffele ich die Suppe eben aus.
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Nabelschau Aristophanes erzählt eine „umlaufende Rede“ und schmückt sie seiner Muse entsprechend aus, d.h. die Geschichte ist gar nicht von ihm, sondern vielleicht ein Märchen, das man damals den Kindern erzählt hat? Die Sachen mit dem Nabel widerspricht so krass der Lebenserfahrung, dass ich mir nicht vorstellen kann, erwachsene Menschen hätten so etwas je geglaubt. Und die Drohung, in der Mitte durchgeschnitten zu werden, steht etwa auf einer Stufe mit dem Schwarzen Mann, der einen holen kommt, wenn man nicht brav ist. Die psychologisierende Erklärung ist übrigens wildes Denken. Ich habe nur versucht, das mit dem Nabel, dem Geschlechtsverkehr und der Urnatur in eine sinnvolle Anordnung zu bringen. Es lässt sich vielleicht bündig aus dem Text entnehmen, enthält aber laut einer befreundeten Psychologin/Verhaltenstherapeutin keine „psychologische Wahrheit“, sondern ist einfach Quatsch. Es ist doch etwas abseitig, die Schwangerschaft als Idylle zu sehen, die durch die Katastrophe der Geburt unwiderruflich beendet wird um dann in der Sexualität umständlich wieder errichtet zu werden. Das ist in allen drei Teilen alles andere als zwingend. Da könnte ich mir schon eher vorstellen, dass Aristophanes kein Wunschkind war und sich jetzt trotzig überall reindrängelt. Aber auch das ist wohl eher Quatsch. Bemüht man Anima/Animus von Jung, kommt man in dieser Konstellation bei Narkissos heraus – mit welchem Nutzen? Es lässt sich von diesem Ausgangspunkt alles mögliche behaupten. Hätte ich besser lassen sollen.
Verliebtheit und Liebe Der Mythos der geteilten Seelen beschreibt treffend das Gefühl der Verliebtheit. Das muss man ja nicht entwerten. Tatsächlich kann man sich auch nach 4000 Tagen Beziehung noch einmal neu ineinander verlieben. Ich nenne es lieber eine Phase der Annäherung. Aber immer wieder tut auch die Kühle der Distanz ganz gut, um sich klar zu werden, was man eigentlich gerade jetzt voneinander will. Beide entwickeln sich ja weiter, oder zumindest sollte es so sein. Also gibt es auch Konflikte. Schlimm ist nur die stumpfe Gleichgültigkeit aus nächster Nähe. Versteht man sich als Schicksalsgemeinschaft, kann es zu Mord und Totschlag kommen. Die so genannten „erweiterten Selbstmorde“ (bei denen der Täter dann meist die ganze Familie auslöscht und apathisch mit der Flinte auf dem Schoß gefunden wird) sind doch nur die Spitze des Eisbergs. So eine Liebeshölle bastele ich mir aus Irrationalität, Verständnislosigkeit und gegenseitiger Abhängigkeit zackzack zusammen. Man muss es nur lange genug schleifen lassen. Auf der anderen Seite mache ich die Erfahrung, dass ich mich mit dem überwiegenden Teil meiner Verwandtschaft gut befreunden kann. Ich sitze stundenlang mit einer 74-jährigen zusammen, die in die Demenz abrutscht, und empfinde diese Zeit nicht als verschwendet. Sie weint ab und zu ganz unmotiviert. Neulich hat sie einen Witz erzählt (2 x hintereinander) und dabei geweint und gleichzeitig mit mir gelacht, da habe ich verstanden, dass das eben einfach ein Symptom ist. Ihre Enkelin hat mir gestern ein Bild gemalt. Ich muss sie noch fragen, wo oben und unten ist, bevor ich es aufhänge. Die Knete ist schon grau gespielt. Nächste Woche backen wir Plätzchen. Letzte Woche habe ich den Mann angerufen, den sie vor 20 Jahren wegen seiner politischen Meinung verhaftet haben, weil ich eine Frage an ihn hatte. Das Wort „Liebe“ gehört erst seit neuem wieder zu meinem aktiven Wortschatz, aber ich geize noch damit. Mir war es zwischenzeitlich zu kitschig.
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Zu Deiner Inhaltsangabe: das lese ich ähnlich wie Du, hilft mir auch ein Stück weiter. Es scheint bei der Liebe, wie Sokrates sie ausübt, nicht darum zu gehen, sich an jemandem zu befriedigen, sondern um das Verstehen oder Begreifen. Alkibiades ist zwar tief beeindruckt, aber er findet kein angemessenes Verhalten und beharrt darauf, Sokrates anbetend zu Füßen zu liegen oder ihn beleidigt zu meiden, statt sich auf Augenhöhe zu begeben. Das Beste was er zu haben meint, sein schöner Körper, wird zurückgewiesen. Seine eigenen Geisteskräfte scheint er dagegen so gering zu schätzen, dass er es gar nicht erst in Erwägung zieht, sich Zuwendung zu verschaffen, indem er mit Sokrates ein Gespräch führt. Statt dessen wirft er sein Gewand über ihn. Alkibiades ist kein Dummkopf, hat es aber geschafft, sich Sokrates gegenüber als uneinsichtiger, in seiner Leidenschaft bedrohlicher Zeitgenosse darzustellen. Die Eifersüchteleien in Bezug auf Agathon verstärken den Eindruck dass er alles unter dem Zeichen der Konkurrenz und des Wettkampfes auffasst. Selbst die Hebammenkunst ist dagegen machtlos. Alkibiades hält sie wahrscheinlich für Erziehung durch rhetorische Fragen. Er ist zur Zeit der Handlung etwa 34 Jahre alt, wird im nächsten Jahr einen glücklosen Feldzug veranlassen und vor seiner Ermordung noch 12 äußerst wechselvolle Jahre erleben. Das passt ja ganz gut ins Bild.
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Bitte gebe Dir keine Tiernamen, das macht mich nervös.
Harmony, sehr lustig, hoffentlich sind wir da auch in der richtigen Rubrik. Scheint, Du hast schlechten Umgang (mit Scientologen etwa, die Deinen Tethan erwecken wollen?). Ich zieh mir den Schuh jedenfalls an und verdächtige mich ab sofort ebenfalls, ein Sophist zu sein. Wäre nur schön, wenn wir einen Geistessklaven finden würden, der uns den logischen Fehler in jedem einzelnen Beispiel nachweist, und das in einer Sprache, die wir beide auch verstehen…
Ich möchte auch ein wenig protzen - was hältst Du hiervon:
Ein Reisender möchte von Hamburg-Hauptbahnhof mit dem Alpen-Expreß nach Kopenhagen fahren und wartet in Hamburg-Harburg auf den Vorortzug zum Hauptbahnhof. Da braust plötzlich der Alpen-Expreß herein und hält außerplanmäßig in Harburg (vielleicht, weil er etwas zu früh ist). Der Reisende erfaßt schnell, daß er sich so das Umsteigen ersparen kann, steigt ein, und da ruft der Aufsichtsbeamte [scheinbar auch schon länger her]: "Halt, Sie dürfen hier nicht einsteigen, der Zug hält hier nicht!" Der Reisende aber ruft aus dem Fenster: "Wenn der Zug hier nicht hält, so bin ich auch nicht eingestiegen!"
Angeblich ist das kein Sophismus, der Teufel weiß, warum.
intuitiv glaube ich nicht an die Existenz geistiger Substanzen, stelle aber fest, dass ich dafür keine guten Gründe habe. Ich werde versuchen, welche zu finden. Mir scheint, so etwas ist bisher schlicht nicht nachgewiesen, wenn es also Erklärungsansätze gibt, die ohne geistige Substanzen auskommen, würde ich sie erstmal vorziehen. Wenn sich dabei allerdings ergibt, dass der Mensch ein Automat oder eine Art Biocomputer ist, hätte ich eine schlechte Wahl getroffen. Ich muss erst ein wenig herumwühlen, wohin mich das bringt - jedenfalls weg von den Poltergeistern und Astralleibern (die als Phantasiegestalten ja durchaus ihren Reiz haben, und eventuell als Symbole für komplexere Sachverhalte ganz nützlich sind? Oder zu abergläubischen Zwangshandlungen und Fatalismus einladen?)
Warum legt Aristoteles so grossen Wert auf eine Trennung von Geist und Seele? Ich würde - wieder rein intuitiv - den Geist mit der Grosshirnrinde in Verbindung bringen und die Seele eventuell mit dem vegetativen NS und der hormonellen Steuerung, das wäre dann ungefähr Sprache, Bilder und Denken auf dem einen Ende eines Spektrums, Affekte, Stimmungen und Gefühle am anderen Ende. Das ohne Not auseinanderzureißen widerstrebt mir, in der Hinsicht kommt Demokrit meinem Wunschdenken entgegen, nur ist das wohl ein wenig zu dünn. Überhaupt scheint mit dieser Einteilung etwas nicht zu stimmen…
Nein, keine Ironie! (Mir reichts davon, "meinst du das jetzt wirklich, oder WIRKLICH?" Zu kompliziert.)
Auch keine Saalschlachten, keine Empfindlichkeiten, keine gekränkte Eitelkeit. Ausserdem keine Herausforderungen zu Schreibduellen. Ich wünsche mir eine Dialoggemeinschaft, in der es um die Sache geht. Daher auch keine Sonderallianzen und kein Gezischel im Hintergrund. Du kannst das als Abmachung nehmen und es mir ggf vorhalten, falls mir was unterläuft.
Du musst nicht unbedingt zitieren, ich schneide alles aus und lese es in der Textverarbeitung (ist auch billiger), bekomme also normalerweise mit, wenn Du eine Antwort einarbeitest. Ist aber eine gute Technik.
Den Weltgeist lege ich zurück, für ein andermal, ich schätze das streift eine Reihe hochinteressanter Auseinandersetzungen, z.B. Philosophie des Geistes. Ich habe dazu Michael Pauen, Grundprobleme der Philosophie des Geistes, Fischer 2001, bin ansonsten leider ziemlich unbeleckt. Schätze, Du könntest einiges zu diesem Begriff bei Hegel beisteuern? Schmeißen wir unsere Sachen doch bei Lust und Laune mal zusammen. Eventuell kommen wir auch bei Phaidon wieder darauf, mir schwant da etwas.
"Wie Platon selbst die Liebe verstanden haben könnte…" Ja, genau. Eigentlich müsste ich eine Rezeptionsgeschichte suchen, andererseits dürfte das gerade bei Platon sehr schnell uferlos werden. Momentan geniesse ich noch meine Naivität. Ich lese es ja gerade tatsächlich zum ersten Mal. Mit Sekundärliteratur werde ich mich dann später eindecken, vielleicht können wir später eine Bücherliste zusammenstellen?
Harmony, ich freu mich, dass Du mich vor dem Autismus rettest. Sokrates ist aber auch darauf angewiesen, von verständigen Freunden vor Störungen geschützt zu werden. Aristodemos, der kleine barfüssige Mann, schirmt ihn freundlicherweise ab vor den Nachstellungen Agathons, der ihn am liebsten an den Haaren herbeizerren lassen würde. Ein echter Liebesdienst, finde ich.
Der Witz ist ja, das Sokrates aus dem Alter der Lieblinge längst hinaus ist, und eigentlich in die Klasse der Liebhaber gehört. Nur ist seine Art der Liebe scheinbar selbst wiederum so liebenswert, dass er sich vor der hervorgerufenen Gegenliebe kaum mehr retten kann. Sicher war es ihm nicht gerade angenehm, auf diese Art zum Vordenker gemacht zu werden. Vielleicht brauchte er auch Zeit, um sich zu wappnen, ich weiß es nicht.
Was Agathon angeht, bin ich sicher, dass er der Liebling Pausanias’ ist, Aristophanes sagt es am Ende seiner Rede. Aber Sokrates sagt ja auch sinngemäß: rettet mich vor diesem Wahnsinnigen (Alkibiades), der meint, ich dürfe nur ihn allein lieben und keinen anderen, und Agathon dürfe nur von ihm allein geliebt werden und von keinem anderen. Der Eros ist also nicht exklusiv. So ist die Treue offenbar nicht gemeint.
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Ich hab mir diesesmal Aristophanes vorgenommen. Angelia, schau mir doch bitte ein wenig auf die Finger, ich hab Dir einiges an Anregung zu verdanken.
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Alkibiades’ Auftritt unterdrückt eine sich anbahnende Auseinandersetzung zwischen Sokrates und Aristophanes (PDF S.95) „weil Sokrates in seinem Vortrage auf ihn mit der Erwähnung jener umlaufenden Rede gezielt hatte.“ Was ist gemeint?
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Aristophanes wäre an dritter Stelle in der Reihenfolge gestanden, war aber wegen Schluckauf verhindert gewesen und hatte mit Eryximachos getauscht. Für seine Rede fürchtet er nicht, dass sie Lächerliches enthalten möge, sondern vielmehr Verlachenswertes.
„Nein, sei auf der Hut und rede so, dass du Rechenschaft ablegen kannst“, entgegnet Eryximachos (S.40) dem Komödiendichter, „dessen ganzes Treiben sich um den Dionysos und die Aphrodite dreht.“ (S.15)
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Aristophanes zeichnet ein groteskes Bild von den 3 menschlichen Urgeschlechtern, den Mann-Männern, Mann-Weibern und Weib-Weibern, die je 4 Füße & Hände, und am gemeinsamen Kopf 2 Gesichter hatten. Sie bewegten sich radschlagend fort und gingen mit hohen Gedanken um, so dass sie selbst an die Götter sich wagten.
Daher schnitt Zeus jeden einzelnen von ihnen in 2 Hälften und behielt sich vor, diese Strafe zu wiederholen und die Menschen zu Einbeinern zu machen, wenn sie weiterhin keine Ruhe halten wollten. Die davon zurückgebliebene Narbe ist der Nabel (!). Da sich die getrennten Hälften aneinanderklammern, ist eine Nachoperation erforderlich, so wird der Geschlechtsverkehr erfunden.
Ein Mann, der seine andere Hälfte in einem Mann sucht, wird zwar schamlos genannt, auch muss diese Art zu Ehe und Kinderzeugung gesetzlich gezwungen werden, dabei handelt es sich aber um die vortrefflichsten Leute. (na klar!)
Wenn nun 2 wirkliche Hälften aufeinandertreffen, wollen sie keinen Augenblick voneinander lassen und ihr ganzes Leben miteinander zubringen, obwohl sie nicht einmal zu sagen wüssten, was sie eigentlich voneinander wollen. Nicht die Gemeinschaft des Liebesgenusses, sondern etwas Ahnbares und Rätselhaftes hält sie zusammen, nämlich der Wunsch, zu einem einzigen Wesen zu verschmelzen. Das ist Liebe.
Wenn wir aber noch einmal gegen die Götter freveln, werden wir mitten durch die Nase durchgesägt werden. Sind wir dagegen ehrfürchtig gegenüber den Göttern, erlangen wir dasjenige, wozu uns Eros Führer und Hort ist und was jetzt nur von wenigen erreicht wird. Es wäre lächerlich, dabei an Pausanias und Agathon zu denken, die vielleicht tatsächlich zu den Auserwählten zählen (soso!), sondern alle, Männer und Frauen, sind damit gemeint.
Wenn es aber das Höchste ist, den je eigentümlichen Liebling zu erlangen und mit ihm in die alte Natur zurückzukehren, so muss notwendig in unseren jetzigen Zuständen das diesem Zunächstliegende das Beste sein.
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Eryximachos erwidert: „Auch mir ist diese Rede zu Dank gesprochen“. Damit hat der ironische Teil des Symposion seinen Höhepunkt erreicht. Was wird Sokrates dazu sagen? Er seufzt und gibt Agathon den Vortritt.
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Ich stelle meine Interpretation zur Diskussion: Aristophanes ist ein Konservativer und ein bekennender Heterosexueller. So weit, so gut. Er sucht im Geschlechtsverkehr die Wiedervereinigung mit seiner Mutter (Nabelnarbe…) als Rückkehr zur Urnatur. Die Liebe ist eine Schicksalsmacht, menschlicher Gestaltungswille kann da nur stören. Stets aufs neue hat man so zu tun, als hätte man die einzig wahre Liebe gefunden – da empfiehlt sich Treue, um diese Illusion nicht zu gefährden. Liebende geben ihre eigene Person auf und reißen alle Grenzen zwischen sich nieder, jede Distanz ist ausgeschlossen. Die Gemeinschaft des Liebesgenusses (die mit Verstand erarbeitet werden könnte) bietet keinerlei Orientierung. Ich bitte auch zu beachten, was damit der Aphrodite angetan ist, sofern jene Göttin gemeint ist, die dem titanischen Leiden ein Ende setzt, indem sie dem stummen Trieb zur Sprache verhilft… Also? Was sagt ihr?
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Sokrates führt folgende Äußerung seiner Lehrerin Diotima dagegen an (S.79): „Nun geht zwar die Rede, […] dass diejenigen lieben, welche ihre andere Hälfte suchen; meine eigene Rede aber sagt, dass die Liebe weder auf die Hälfte noch auf das Ganze gerichtet ist, wenn es nicht eben, lieber Freund, etwas Gutes ist. Denn die Menschen sind bereit, sich ihre eigenen Hände und Füße abschneiden zu lassen, wenn ihnen diese, ob auch immer ihre eigenen, so doch zum Übel zu sein scheinen. Denn niemand liebt, wie ich denke, das Eigene als solches, es müsste denn jemand das Gute als das Angehörige und wahrhafte Eigentum bezeichnen, das Schlechte aber als das Fremdartige. Nichts anderes nämlich lieben die Menschen als das Gute;“
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Zum Glück habe ich auch in der Welt der Körper Gelegenheit, mit anderen über diesen wunderbaren Text zu sprechen. Es gibt verschiedene Lesarten… und es wirkt sich aus ;-)
Ja, ein Weilchen… ist um. Ich antworte mir selbst, wie albern.
Liebe Freunde, ich habe flüchtig einen Text zur „Persönlichkeitskonstruktion im Chat“ überflogen. Nauplios ist recht zu geben. Ein Forum bietet andere Möglichkeiten. Ich lerne hoffentlich dazu.
Wer ist schon Tanoujin? Doch nur das, was ich hier aus ihm mache. Es gibt also neben der Axt im Walde noch die Möglichkeit, einfach und schlicht zu sagen, was man denkt. ------
Zitat aus Ekkehard Martens „Philosophieren mit Kindern, eine Einführung in die Philosophie“ Reclam 9778
„ Wir schieben die Frage, wie und wozu wir leben sollen oder können, aus unserem Alltag in Sondersituationen ab und delegieren sie darüber hinaus von uns selber auf Experten. […] Um der Aufforderung nachkommen zu können, genauer zu sagen und besser zu begründen, was man meint und will, braucht man keine speziellen Fachkenntnisse oder Sonderbegabungen, sondern man muss lediglich denken und sprechen gelernt haben. […] Wenn man aber ersteinmal damit anfängt, konsequent weiterzufragen und weiterzudenken, kommt man unweigerlich auf Fragen, die vermutlich jeder als philosophisch gelten lassen würde. […] In unserer Tradition hat sich seit den Griechen eine Skepsis gegenüber vermeintlichen Unmittelbarkeiten und Selbstverständlichkeiten herausgebildet und mit ihr die Gewohnheit, über unser eigenes Denken nachzudenken oder zu reflektieren.“ ------
Angelia, eine bessere Antwort auf die Frage nach der philosophischen Relevanz von X habe ich derzeit nicht. Lektüre erfordert eine gewisse Offenheit gegenüber dem Stoff, gerade dann, wenn er irritierend ist. Es führt zu etwas, ich löse es unten ein.
Harmony, ich schätze deinen Praxisbezug mehr, als ich hier sagen kann. Nimm es, was mich betrifft nicht als Eindringen, sondern als Berührung eines Haares. Wegen der „sich rechtfertigenden alten Männer“: Agathon und Aristophanes sind zur Zeit der Handlung ca. 30 und 31 Jahre alt… ––––
Um der Rede des Phaidros Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Phaidros ist offenbar ein recht junger Mann, der sich häufig und gründlich mit dem heilkundigen Eryximachos bespricht. Es ist doch schön, zu sehen, wie Eryximachos die Geschäftsordnung regelt, um das Referat seines Schützlings zu lancieren, und die Offenheit, mit der alle sich für diese Runde unter den Vorsitz des Phaidros begeben. Er macht seine Sache recht gut, als er später eine ausufernde Diskussion zwischen Sokrates und Agathon unterbricht. (PDF S.52)
In seiner Rede bezeichnet er den Eros als Urheber der höchsten Güter, das ist: ein schönes und würdiges Leben zu führen und Großes zu vollbringen. Ein Liebender prüft sich selbst mit dem Auge des Geliebten, ebenso der Geliebte mit dem Auge des Liebhabers. Das Urteil der anderen setzt dem eigenen Verhalten Grenzen und motiviert zu überragenden Leistungen. Nur Liebende sind bereit, füreinander zu sterben. Die Götter ehren den Eifer und die Tüchtigkeit im Dienste der Liebe vor allem. Die Rede enthält eine Utopie: eine ideale Gemeinschaft, in der alle einander lieben.
Liebenswert an Phaidros ist, wie er Haltung und Inhalt auf einen Nenner bringt. Pausanias wird daran anknüpfen und den Eros spalten. Die Sichtweise des Liebhabers des Agathon ergänzt so die Rede des Geliebten des Eryximachos. Eryximachos wird versuchen, die Gegensätze wieder zu versöhnen. -----
Die Relevanz des homoerotischen Aspekts: es ist eine Männerrunde, die ausgehend von der Liebe unter Männern zu einem allgemeinen Begriff kommt. Daher ist die Diotima eine notwendige Figur.
Phaidros würde alles dafür tun, um geliebt zu werden. Die Lebensaufgabe der Kindheit, Selbstkontrolle und Beherrschung von Regeln zu erlernen, spiegelt sich in seiner Bemerkung über die Scham. Die Lebensaufgabe des Heranwachsens, eine Persönlichkeit zu entwickeln, zeigt sich in der naiven Behauptung: ich bin nur jemand, wenn ich geliebt werde. (Ich stütze mich dabei auf das Erikson-Schema der Lebensstadien) Kein Wunder, das Pausanias daraufhin einschreitet! Sokrates wird in seiner Rede eine Orientierung geben, die Pausanias’ Sittengesetz übersteigt: Indem man auch dem guten Leben anhängt, wenn man nicht dafür geliebt wird, stellt man sich den Problemen von Isolation und Abhängigkeit und tritt dadurch ein in die Verantwortung, von der Pausanias gesprochen hat. –––
Es bleibt bezüglich dieser Rede noch etwas anzumerken: der dionysische Auftritt von Alkibiades wird von Eryximachos in eine Lobrede auf Sokrates kanalisiert. Seht Euch seine Büste an :-). Zur Zeit der Handlung ist er 54 Jahre alt. Also, zugegeben, Harmony.
Und hier liegt der Clou, denn wenn Phaidros alles tun würde. um in den Augen der anderen liebenswert zu erscheinen, dann soll er nur dem Sokrates nacheifern und kräftig philosophieren. So schließt sich der Kreis der Reden.
Ich wünsche einen schönen Tag, und hoffe, von Euch zu hören. Tan
Thema von Tanoujin im Forum Philosophische Lektüre 1
Hallo Bezogen auf unsere Lektüre stelle ich fest, dass Pausanias die Idee mit dem doppelten Eros (irdisch/himmlisch) im Hinblick auf die Sittlichkeit einführt und Eryximachos ihn unter den Aspekten der Heilkunde und anderer Künste aufgreift und zu einem Naturprinzip erklärt.
Beim ersten werden damit Absichten unterschieden, beim zweiten Wirkungen. Pausanias charakterisiert den Eros als irdisch, der die Körper flüchtig liebt, der Verständigkeit aber ausweicht, um leichter zum Ziel zu kommen. Ich sehe hier die spätere Abtrennung der Körperlichkeit angelegt. Pausanias selbst strebt aber ganz sicher nichts dergleichen an, beileibe nicht. Er wünscht sich statt dessen eine gesetzliche Regelung, die die unsittlichen Liebhaber in ihre Schranken weist. Nur der Eros, der die Liebenden zwingt, Sorgfalt auf ihre Tugend zu legen, ist dem Staat und dem Einzelnem förderlich.
Bei Eryximachos hat der Heilkünstler die Aufgabe, die Liebesregungen des Körpers zu erkennen, die rechte von der falschen Liebe zu unterscheiden und sie entsprechend hervorzurufen oder zu vertreiben. Indem Eintracht unter den Gegensätzen gestiftet wird, entsteht Harmonie. Die irdische Liebe muss mit Vorsicht angewendet werden, da sie sonst durch zügellose Lust Unordnung und Krankheit hervorruft. Durch die himmlische Liebe entsteht Freundschaft zwischen den Menschen und mit den Göttern. Eryximachos würde uns also aus medizinischen Gründen vom Verzicht auf den irdischen Eros abraten und zur Vorsicht mahnen.
In der Rede der Diotima findet sich der Doppelaspekt des Eros in der Charakterisierung seiner Eltern, Penia (Armut) und Poros (Erwerb, Betrieb) wieder. Es ist die Armut, die sich am Geburtstag der Aphrodite den schwer berauschten Erwerb zum Gatten nimmt. Eros erbt die Dürftigkeit von der Mutter, stellt aber vom Vater her dem Schönen und Guten nach. Er trachtet stets nach der Wahrheit und versteht auch, sie sich zu erwerben. Bald blüht er und gedeiht, bald stirbt er hin, erwacht aber immer wieder zum Leben. Das Gewonnene rinnt ihm immer wieder von dannen. So sind die beiden Naturen der Eltern in ihm vereint.
Eros strebt nach dem dauernden Besitz des Guten, dies gelingt ihm durch Zeugung im Schönen. Die Zeugung aber ist die Vereinigung von Mann und Frau, also Angelegenheit beider Geschlechter. Auch das ist ein Doppelaspekt. Durch die Zeugung hat das Sterbliche teil an der Unsterblichkeit. (Erfreulich: die Zeugung wird nicht allein dem Mann zugeschrieben und die Frau mit der sogenannten "Empfängnis" abgespeist, "Alle Menschen haben nämlich Zeugungsstoff in sich". Es ist in dieser Sache eine Menge schier unerträglichen Unsinns im Umlauf, z.B. die nicht totzukriegende Samen/Sperma-Analogie, die die Frau metaphorisch dem frisch gepflügten Ackerboden gleichsetzt.)
Es wird nun unterschieden zwischen der körperlichen und der seelischen Zeugungslust. Der seelischen kommt die Weisheit und alle Tugend zu. Diotima lobt die Weisheit am höchsten, die sich mit der Verwaltung des Staates und des Hauswesens befasst. Dank Angelia wissen wir ja, wer bei Sokrates daheim die Hosen anhat, und nicht umsonst hält uns diese Rede eine Frau. Neben den "biologischen Aspekten der menschlichen Arterhaltung" ist damit der Bereich der Kultur durch die seelische Zeugungskraft erfasst.
Es folgt ein Exkurs über die Fortpflanzung der Kultur über Beziehungen, darauf die Entpersönlichung der Liebe und die Hinwendung zum Schönen an sich. Ich werde jetzt ein Weilchen still sein und Euch zulesen. Grüsse, Tan
Liebe Angelina, Dank für die Zuwendung. Was kann man Besseres erwarten als einen Gesprächspartner, der recherchiert und überlegt? Was kann man andererseits von Leuten erwarten, die sich ohne Haltung und Methode auf den geistigen Schätzen ihrer privaten Offenbarungen herumfläzen? Ich will mich bessern und nehme mir ein Beispiel.
Ich fasse es nach Deinen Hinweisen so auf, dass der landläufige Begriff der platonischen Liebe "aus dem übertönenden Schwall der Worte stammt, die über [Plato] gemacht wurden".
Diese Formulierung hab ich nun aus Friedrich v. Falkenhausens Vorwort zu Dantes göttlicher Komödie gestohlen und die Namen ausgetauscht. Wir sind jetzt also ins 13/14. Jhd. n. Chr. geraten. Das Zeug liegt gerade im wüsten Stapel vor mir. Ein paar Auszüge:
Dante steht auf dem Boden der Scholastik, in Thomas von Aquino verehrt er den untrüglichen Meister und Lehrer. In der Hochscholastik bildete der Platonismus auch in den Lehrgebäuden der Aristoteliker eine starke Unterströmung. Das wäre ein Überlieferungsfaden.
Der Leitgedanke der Göttlichen Komödie ist die Heimkehr der verirrten Seele zu Gott. Die Pilgerfahrt durch die 3 jenseitigen Reiche (Hölle, Fegefeuer, Paradies) ist eine Katharsis im christlichen Sinne. Dantes persönliche Vermittlerin der göttlichen Gnade ist Beatrice, die "Herrin der Tugend". Ihr Blick habe ihn bei Lebzeiten über alles Gemeine emporgehoben. Dante liebt zwar im höchten Mass vergeistigt, aber er bereist die jenseitigen Welten körperlich. Er hat Gewicht und wirft einen Schatten, daran erkennen ihn die Seelen der Toten als Lebenden.
Schon bei den provenzalischen Troubadours und bei ihren Nachahmern in Italien finden wir eine Vergeistigung der Frauenliebe, die sie zum Symbol selbst für religiöse Vorstellungen macht.
Dante steigert den allzuoft geistreichelnden Minnesang - bildhaft gesprochen - zu einer im heiligen Ernst ausgeführten Doppelfuge, in der ein Choralthema mit dem eines Liebesliedes verwoben ist. (ISBN 3-458-31794-5)
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Ich versteige mich auf dieser Grundlage zu der Vermutung, dass ein zölibatärer Scholastiker den irdischen Eros aus dem Liebesbegriff des Symposion getilgt hat, und dass diese körperlose Liebe in den Minnesang Einzug gehalten hat. Das zurecht als unerreicht geltende Werk Dantes dürfte endgültig dafür gesorgt haben, dieses Konzept in den Köpfen der Gebildeten zu verewigen.
Die Bildungsmühlen des Bürgertums haben es dann zu dem Allgemeinplatz zermahlen, der wahrscheinlich gerade jetzt wieder ausgiebig in Liebe@aol als Pseudothema "Beziehung ohne Sex - geht das?", zum Anlass läppischer Äusserungen dient. Warum auch nicht.
Ach, den Weltgeist hab ich ja jetzt völlig verdrängt - Weltseele? Weltharmonie? Pythagoras via Platon? Kannst Du mir da einen Lesetipp geben?
Hi Ich werde mich im folgenden eng an die Beiträge von Nauplios und Angelia anschliessen. Dabei verwende ich als Textquelle das von TemporarySilent beschaffte PDF. Bitte seid doch weiterhin so freundlich, mich wenigstens auf meine gröbsten Fehler hinzuweisen, damit ich mich korrigieren kann.
Angelia hat, wie ich meine mit Recht, die Aufgabe, die Rede der Diotima isoliert zusammenzufassen als schädelsprengend bezeichnet. Die vielfältigen Rückbezüge auf die umgebenden Hüllen streben einer Zusammenfassung so stark entgegen, dass man eher verleitet wird, die Geschichte von innen heraus neu zu erzählen.
Barbara Zehnpfennig bringt dieses Kunststück fertig, indem sie bei der Rede des Sokrates, die ja die Rede der Diotima enthält, ansetzt. Aber es bleibt trotzdem ein Gewaltakt, das raffiniert konstruierte Symposion wie eine Socke umzukrempeln. Das extrem verdichtete Ergebnis ist ohne genauere Kenntnis des Symposions nur schwer zu verstehen, jedenfalls geht es mir so.
Hoffentlich entsteht nun nicht der Eindruck, dass Zehnpfennig schlechtgeredet werden soll. Es ist aber kaum einzusehen, warum man nicht zuerst gemeinsam den Weg zur Rede der Diotima gehen sollte, den Plato so kunstvoll für uns angelegt hat. Auf dieser Grundlage wären die von Zehnpfennig oder anderen gebotenen Ausblicke und Querverweise vielleicht besser zu würdigen.
Zu diesem Zweck könnte man unserem guten Nauplios auf die Erzählebene des Aristodemos folgen und sich wenigstens im Überflug ansehen, was die 5 Vorredner des Sokrates zu sagen haben, wie sie sich aufeinander beziehen und ihr Thema entwickeln. Dann kann man sehen, wie sich das in der Rede des Sokrates widerspiegelt.
Die Reihenfolge der Redner: Phaidros, Pausanias, Eryximachos, Aristophanes, Agathon, Sokrates/Diotima, Alkibiades
Nebenbei ist es interessant, wie zum Beispiel Eryximachos Sokrates zuarbeitet, und wie Plato Sorge trägt, Aristophanes nicht unbedingt ins allerbeste Licht zu rücken. Hat dieser doch den Sokrates in seiner Komödie „Die Fösche“ herzlich schlecht gemacht – ca. fünf Jahre bevor Apollodoros seinen Freunden die Erzählung des Aristodemos wiedergibt, oder andersherum: ungefähr elf Jahre nach dem Gelage, falls ich noch rechnen kann ;-). Bereits 7 Jahre VOR dem Gelage hat er in den "Wolken" Sokrates als Obersophist dargestellt, der die herkömmlichen Götter leugnet und im Umgang mit der athenischen Jugend Recht zu Unrecht verdreht. Vorwürfe, die später auch im Prozess gegen Sokrates erhoben wurden. Seht mir diese Abschweifung nach.
Hi Harmony, Angelika, Naupilos Ich gebe Harmony recht, der Text ist (wie nicht anders zu erwarten) über weite Strecken sexistisch, es wäre eine genaue Analyse wert, inwieweit sich das in der Rede der Diotima auflöst. Ziemlich weit, meine ich. Die offenen Worte zur Homosexualität fand ich recht erfrischend. Immerhin wird es auch den Frauen zugestanden, um ihresgleichen zu buhlen, jedenfalls wird die Möglichkeit nicht unterschlagen. Daneben scheint es so zu sein, dass der Liebende aufgrund seiner göttlichen Begeisterung höher gewertet wird als der Geliebte (Daher ist die Leistung des Geliebten, dem Liebhaber in den Tod zu folgen konsequenterweise höher veranschlagt) Die Liebhaber, also die älteren Herren scheinen sich hier tatsächlich ein wenig selbst zu beweihräuchern. Andererseits finde ich es auch angenehm, hier nicht den üblichen Symmetriezwang zwischen Liebenden vorzufinden. Ich bezweifle, dass es, wie von Harmony behauptet, hier um die Selbstverwirklichung in der Liebe geht. Selbstverwirklichung ist doch wohl eher ein modernes Konzept. Tatsächlich zeigt Sokrates die Verwechslung zwischen dem Eros und dem Begehrten auf, damit sind seine Vorredner doch eigentlich alle widerlegt. Ich finde es daher müssig, die Vorredner allzu ausgiebig zu kritisieren, wenn frau dabei hinter die Kritik des Sokrates zurückfällt…
Zur Zusammenfassung: "Ebenso philosophiert der gänzlich Unverständige*, denn er weiß nichts von seinem Unverstand." *hier fehlt ein "nicht"
Ich hab ja nicht viel Ahnung, Angelika, ist das im "mysteriösen" Teil der Rede der Diotima vorgestellte Ideal die vielbemühte "platonische Liebe"?
Ich grüsse die "Gemeinde" und zögere nicht, bei ihr Zuflucht zu nehmen. Scheinbar fehlt mir die Angst vor der Philosophie, dieser giftigen Orchidee. Man muss sie ja nicht essen. Danke fürs PDF, Naupilos. Also los… Tan