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 Philosophische Lektüre 1
Tanoujin Offline



Beiträge: 19

31.07.2004 17:38
Betriebsausflug in die tragische Liebe Antworten

Auszug aus „Orestes“, aufgeführt im Jahr 408 v. Chr., vermutlich bei der letzten Teilnahme des Euripides am tragischen Agon der Großen Dionysien.
Ausgabe und Übersetzung: Textgrundlage von Gustav Adolf Seeck, die den Text der alten Oxford-Ausgabe von Gilbert Murray mit der Übersetzung von Ernst Buschor vereinigt. Forschungsstand 1972-81; Herausgeber: Bernhard Zimmermann im Verlag Artemis und Winkler 1996.

Zweite Hauptszene, Auftritt Tyndareos

ZITAT

Chorführer:
Auf alten Füßen müht sich Tyndaros,
Der Fürst aus Sparta, her, im schwarzen Kleid
Und kurzem Haar: er trauert um sein Kind.

Orestes:
Ich bin verloren, diesem Tyndaros,
Der hier erscheint, kann ich nach allem, was
Ich tat, am wenigsten ins Auge schaun.
Er hat mich aufgezogen, immer mich
Liebkost, hat Agamemnons Kind im Arm
Getragen, er und Leda haben mich
Mit ihren Dioskuren gleichgeliebt.
Wie hast du, meine Seele, armes Herz,
Es ihnen schlecht gelohnt! In welche Nacht
Hüll ich mein Antlitz, welche Wolke schieb
Ich vor, dass mich des Alten Blick verschont?

Tyndareos:
Wo, wo ist Menelas, mein Tochtermann?
Ich spendete auf Klytaimestras Grab,
Da hört ich: glücklich ging er mit der Frau
Nach langer Fahrt in Nauplia ans Land.
Führt mich in seine Arme, denn ich will
Ihn küssen, nach so langer, langer Zeit.

Menelaos: Des Zeus Genosse, Alter, sei gegrüßt!
Tyndareos: Gegrüßt auch du, mein Eidam Menelas!

(er sieht Orestes)

Doch hier, ein bitter unverhofftes Bild!
Der blutge Drache, mir ins Mark verhasst,
Schnaubt seine bösen Flammen vor dem Haus!
Wie kannst du mit ihm reden, Menelas?

Me: Warum? Sein Vater war mein nächster Freund.
Ty: Von solchem Vater stammt ein solcher Sohn?
Me: Und darf ins Unglück nicht verstoßen sein!
Ty: Die Fremde nahm dir deinen Griechensinn.
Me: Der Grieche achtet das verwandte Blut.
Ty: Und stellt sich niemals über das Gesetz.
Me: Der Weise unterwirft sich der Natur.
Ty: Mit solchen Lehren bleibe mir vom Leib!
Me: Dein Zorn und graues Haar verblenden dich!

Ty: Kann hier von Weisheit noch die Rede sein?
Wo jeder weiß, was gut ist und was nicht,
Frug dieser Mann im reinen Unverstand
Nicht nach Gesetz und altem Griechenrecht.
Als Agamemnon einst sein Leben ließ
Von meiner Tochter Beilhieb auf sein Haupt
(Der Untat, die ich nicht beschönen kann),
Mußt er sie rufen vor ein Blutgericht
Und Sühne heischen und sie aus dem Haus
Verstoßen. Maß statt Willkühr, gutes Recht
Hätt er geübt und gälte allen fromm.
Nun rief er ihren eignen Daimon an.
Und der mit Recht der Mutter Bosheit schalt,
hat mit dem Muttermord sie noch besiegt.
Noch dieses eine höre, Menelas:
Erschlüge diesen Mann sein Eheweib
Und dann sein Sohn die mörderische Frau,
Und sühnte dann sein Enkel Mord mit Mord,
Wo fände dieses Töten je sein Ziel?
So setzten unsre Väter guten Brauch:
Kein Blutbefleckter kommt uns zu Gesicht
Noch sprechen wir ihn an; mit Acht und Bann
Hält man ihn fern und nicht mit frischem Blut,
Sonst wäre jeder neuem Tod geweiht,
Der seine Hand zuletzt in Blut getaucht.
Ich hasse jedes frevelhafte Weib,
Voran die Tochter, die den Mann erschlug;
Auch Helena, dein Weib, die wenig taugt,
Sprech ich nicht an und schwer bedaur ich dich,
Daß du für solche Frau nach Troja fuhrst.
Mit ganzen Kräften helf ich dem Gesetz
Und will nicht, dass man wilden Tieren gleich
Im Blutdurst Stadt und Land zur Öde macht.

(zu Orestes)

Unseliger, wie war dir da ums Herz,
Als deine Mutter flehend ihre Brust
Darbot? Ich hab es nicht mit angesehen,
Doch schmolz in Tränen mir das alte Aug.
Schon dies macht alle meine Worte wahr:
Die Götter hassen und verdammen dich!
Und schlagen dich mit Angst und Wahnsinn. Braucht
Es einen Zeugen, wo du vor mir stehst?

(zu Menelaos)

So höre: trotze diesen Göttern nicht!
Und steh ihm nicht zur Seite, Menelas!
Laß von den Bürgern ihn gesteinigt sein,
Sonst bleibe meinem Sparta ewig fern!
Hat meine Tochter schon den Tod verdient,
So sicher nicht von seiner Mörderhand.
Das Glück hat all mein Leben gut bestellt –
Nur nicht mit Töchtern! Da verließ es mich.

Chorführer:
Wohl dem, der Freude an den Kindern hat
Und nicht durch sie zum Spott der Leute wird!

Orestes:
Vor meiner Antwort trag ich selber Furcht,
Da sie dein Herz nur tief betrüben kann.
Stünd nicht dein Alter vor mir, das den Mund
Mir zügelt, ging ich freien Weg;
So aber scheue ich dein weißes Haar.
Als Muttermörder bin ich zwar verfehmt,
Als Vaters Rächer zeig ich keinen Fehl.
Was sollt ich tun? Versteh den Gegensatz:
Mein Vater schuf mich, deine Tochter trug,
womit ein Fremder ihre Flur bepflanzt,
Sein Same nur verhalf ihr zur Geburt,
Ich glaubte, dem Bewirker dieser Frucht
Mehr zu entstammen als der Nährerin.
Und soll dein Kind noch meine Mutter sein,
Die frech der Ehe Heiligkeit entweiht?
Wenn ich sie schmähe, schmähe ich mich selbst,
Doch solls gesagt sein: heimlicher Gemahl
Im Hause war Aigisthos. Diesen schlug
Ich tot, die Mutter folgte hinterdrein.
Wars Unrecht, war es doch Sohnespflicht.
Du hast mich mit der Steinigung bedroht,
Wo meine Tat ganz Griechenland befreit!
Wenn sich das Frauenvolk so weit versteigt,
Die Männer mordet, zu den Kindern flieht
Und Mitleid fordert mit entblößter Brust,
Ist Gattenmord bald eine Kleinigkeit;
Ein Vorwand findet sich. Mit meiner Tat,
Die dich empört, beend ich solchen Brauch.
Mit Recht erschlug ich das verhasste Weib,
Das einen Gatten, der in Waffen stand,
Den Führer des gesamten Griechenheers,
Verriet und nicht sein Bett in Ehren hielt.
Als sie es einsah, hat sie nicht sich selbst
Gerichtet, nein dem Urteil zu entgehn,
Hat sie den Mann gestraft und umgebracht.
Ihr Götter (wenn ihr einen Mörder hört),
Wie sollt ich dulden dieser Mutter Tat?
Wie konnt ich fliehen vor des Toten Groll,
Vor seiner Rachegeister wilder Jagd?
Stehn diese Rächer nur der Mutter bei,
Nicht ihm, der größres Unrecht litt als sie?
Du hast die üble Tochter selbst gezeugt,
Die mich verdarb, die mir den Vater nahm
Und mich zum Muttermörder werden ließ.
Odysseus’ Gattin fiel nicht von der Hand
Des Telemach: im unbefleckten Bett
Nahm sie zum Manne keinen Mann hinzu.
Sieh auf Apollon, der am Nabelstein
Aus wahrstem Mund die Menschen unterweist.
Und dem wir jeden Glauben schuldig sind:
Auf sein Geheiß schlug ich die Mutter tot.
Er ist der Frevler, den ihr töten müsst,
Er hat gefehlt, nicht ich. Was konnt ich tun
Ich zeig auf ihn, dem Gotte fällt es zu,
Den Fleck zu tilgen! Wohin wend ich mich,
Wenn der Befehler nicht mein Retter ist?
Kein Mensch wird leugnen: diese Tat war gut,
Doch dem Vollstrecker brachte sie kein Glück!
Wes Haus in vollen Ehren steht, der führt
Ein selges Leben; wems zerrüttet ist,
Hat drin und draußen keinen guten Tag.

Chorführer:
Stets ist die Frau dem Mann das Hindernis,
Das schwere Tage ihm noch schwerer macht.

Tyndareos:
Jetzt wirst du frech, gibst lose Antwort, die
Mich nur verletzt und nur von neuem treibt,
Dich mit dem Tod zu strafen. Ja, das wird
Das rechte Nachspiel meines Opfergangs,
Der schönste Schmuck für Klytaimestras Grab!
Ich trete selbst vor Argos’ Bürgerrat
Und treib ihn, mag er wollen oder nicht,
Zu deiner und der Schwester Steinigung.
Noch mehr als du hat sie den Tod verdient!
Sie hetzte gegen eure Mutter, blies
Feindselig spitze Reden in dein Ohr
Von Agamemnons Traumbild, von Aigisths
Buhlschaft, die allen schon so bitter war
Und die im Hades ihren Lohn empfängt.
So schürte sie des Hauses finstre Glut.
O höre, Menelas, was ich beschloß:
Willst du mein Freund und mein Verwandter sein,
So falle nicht den Göttern in den Arm,
Laß unser Volk die beiden steinigen,
Sonst bist von Sparta ewig du verbannt!
Vernimm es: wähle deine Freunde nicht
Aus Frevlern! Beßre stehen dir bereit!
Und nun geleitet mich aus diesem Haus!

(mit Begleitern ab)

ZITAT ENDE

TemporarySilent Offline




Beiträge: 231

04.08.2004 20:47
#2 RE:Betriebsausflug in die tragische Liebe Antworten


Hallo Tanoujin,

Dein Betriebsausflug in die tragische Liebe spiegelt auf seine Art auch den tragischen Niedergangs Athens wieder.Liebe als Spiegel politischer Verhältnisse?
Auf einer Zeitskala, alle Daten vor Christus,finden folgende Ereignisse statt:

431 der Peleponnesische Krieg
415 die sizilianische Expedition
408 Uraufführung ...Orestes
404 die Niederlage Athens,Ende des Peleponnesischen Krieges
399 der Justizmord an Sokrates

Was war die Ursache für den rapide sich vollziehenden Niedergang Athens? Die vorherrschende und keineswegs falsche These ist, daß der Niedergang Athens als Folge der Marginalisierung der produktiven Volksschichten der Landwirte und Handwerker zu sehen ist. Stattdessen dominierten oligarchische Familien, die den Seehandel, das Bankenwesen sowie große Manufakturen und Latifundien auf Sklavenbasis kontrollierten. Diese Oligarchie dominierte nicht nur die Wirtschaft, sondern die Politik Athens. Die von Solon geschaffene republikanisch-demokratische Bürgerverfassung wurde zunehmend unterhöhlt.

...Zitat nach T. ...
Ty: Kann hier von Weisheit noch die Rede sein?
Wo jeder weiß, was gut ist und was nicht,
Frug dieser Mann im reinen Unverstand
Nicht nach Gesetz und altem Griechenrecht.
Als Agamemnon einst sein Leben ließ
Von meiner Tochter Beilhieb auf sein Haupt
(Der Untat, die ich nicht beschönen kann),
Mußt er sie rufen vor ein Blutgericht
Und Sühne heischen und sie aus dem Haus
Verstoßen. Maß statt Willkühr, gutes Recht
Hätt er geübt und gälte allen fromm.
Nun rief er ihren eignen Daimon an.
Und der mit Recht der Mutter Bosheit schalt,
hat mit dem Muttermord sie noch besiegt.
Noch dieses eine höre, Menelas:
Erschlüge diesen Mann sein Eheweib
Und dann sein Sohn die mörderische Frau,
Und sühnte dann sein Enkel Mord mit Mord,
Wo fände dieses Töten je sein Ziel?


Die Transformation des Attischen Seebundes, in dem Athen die Rolle des "primus inter pares" unter den griechischen Stadtstaaten spielte, in ein Athenisches Imperium, führte dazu, dass dieses zusehends von "Subsidien" abhängig wurde, die von den zu Vasallen degradierten einstigen Allierten erpreßt wurden. Die einst produktive und politisch unabhängige Mittelklasse der athenischen Bürgerschaft wurde nun mittels der nach Athen hineinfließenden Tribute der Vassallen zunehmend materiell und politisch korrumpiert.


Als Folge der Aufrüstung und Expansion des Athener Imperiums wurden die Athenischen Bürger-Soldaten und -Seeleute mehr und mehr durch Söldner ersetzt. Es kam also zu der schleichenden realwirtschaftlichen und politischen Erosion noch eine schleichende militärische Schwächung hinzu.Der Peloponnesische Krieg entpuppte sich dann nicht als der ersehnte Befreiungsschlag, sondern als eine "Flucht nach vorn", die schließlich in der endgültigen Niederlage Athens endete.

In diesem Sinne...

warm regards

Temp =)
the opposite of blues is celebration - don´t walk in my shoes if you don´t know

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