Hallo miteinander!
Ich habe eigentlich erst nur mal den Mund gespitzt, und jetzt soll ich schon pfeifen?
Na gut, Ihr habt es so gewollt...
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Was bleibt, wenn man 80 Jahre nach seinem Erscheinen auf SuZ zurückblickt? Was daran hatte philosophiegeschichtlich Bestand? In welcher Richtung hat es vor allem gewirkt?
Ich denke, dass nun, nachdem sich die ontologischen Nebel und die Pulverdämpfe der kontroversen Rezeptionsgeschichte gelichtet haben, vor allem eins klar hervortritt, und das ist die TRANSZENDENTAL-PRAGMATISCH ansetzende ANTHROPOLOGIE des Buches. Als das, was Heidegger zur Zeit der Abfassung darin sah, ist das Buch nur ein Fragment, ein Dokument des Scheiterns. Darum sollte man vielleicht die Spekulationen darüber lassen, worauf Heidegger EIGENTLICH hinaus wollte und wozu SuZ nur die Vorbereitung war. Lesen wir stattdessen das, was Heidegger in dem Buch tatsächlich geleistet hat: eine Phänomenologie der menschlichen Lebensbezüge, die zugleich eine kritische Revision der traditionellen, metaphysischen, "theoretischen" menschlichen Selbstverständigung ist.
Wieso nenne ich Heideggers philosophische Revision "transzendental-pragmatisch"? Was verstehe ich unter diesem Doppeladjektiv?
"Transzendental" ist nach meinem Verständnis eine philosophische Reflexion, wenn sie sich nicht mit Gegenständen einer bestimmten Art beschäftigt, sondern nach den (systematischen) Voraussetzungen, den "Bedingungen der Möglichkeit" dieser Gegenstände fragt. "Gegenstände" sind etwas anderes als "Dinge". Fragte man nach den Voraussetzungen von Dingen, hätte es wenig Sinn, sich eine Antwort von der philosophischen Reflexion zu versprechen; empirische Forschung wäre dann aussichtsreicher. Allerdings: Wenn wir Dinge erforschen, tun wir das immer AUF EINE BESTIMMTE WEISE. Die Dinge mögen sein, wie sie wollen, sie werden uns jeweils nur AUF DIE WEISE zum GEGENSTAND, in der wir mit ihnen umgehen, um sie in ihrem Sosein zu erkennen. Daher ist UNSERE Erkenntnis ihres Soseins stets von der Weise UNSERES Umgangs mit ihnen mitbedingt. - Eine philosophische Reflexion auf diesen von uns selbst zu verantwortenden Teil unserer Erkenntnis des Seienden, wie es ist, nenne ich "transzendental". Und ich denke, es lässt sich verhältnismäßig leicht zeigen, dass Heidegger in SuZ eine Reflexion dieser - von Kant initiierten - Art durchführt.
Was verstehe ich unter einer "pragmatisch" ansetzenden Philosophie? "Praktisch" ist seit Aristoteles ein Gegestück zu "theoretisch". Praktische Philosophie beschäftigt sich - gegenständlich - mit dem (menschlichen) Handeln, seinen Bedingungen und rationalen Strukturen. Als Philosophie ist nun auch die praktische Philosophie eine Art von "Theorie", sofern eben die philosophische Reflexion auf das Handeln etwas anderes ist als das Handeln selbst.
Aber nun fragt sich zunächst, welches Gewicht eine Philosophie dem Handeln einräumt - ob sie es nur als einen ihrer verschiedenen Gegenstände in den Blick nimmt oder als etwas Grundlegendes, und zwar auch grundlegend für sie selbst (die Theorie). Eine "pragmatische" Philosophie, könnte man sagen, betrachtet das Handeln in einer solchen grundlegenden Weise. Sie begreift auch sich selbst, die Theorie, als durchs Handeln und seine Strukturen mitbedingt, ja vielleicht sogar als EINE BESTIMMTE ART des Handelns.
Aber wenn Philosophie ihr Tun - die Reflexion - als eine bestimmte Art des Handelns begreift, bleibt das nicht folgenlos für die Einschätzung ihrer RESULTATE, die sie zutage fördert ("Wissen"). Bekanntlich hat Aristoteles nicht nur Theorie und Praxis unterschieden, sondern ihnen auch verschiedene Formen des Wissens zugeordnet. Wissenschaftliches Wissen, wie es die Philosophie produziert, unterliegt nach seinen Vorstellungen anderen Anforderungen als das Wissen, das wir zum Handeln oder zum technischen Herstellen benötigen. Wissenschaftliches Wissen hat einen andere Weise der "Strenge" und Gewissheit ("Allgemeinheit", "Notwendigkeit") als praktisches Wissen, das wir benötigen, wenn wir in bestimmten Situationen etwas tun oder herstellen wollen. - Hier wird, denke ich, absehbar, dass eine "pragmatisch" ansetzende Philosophie womöglich auch gewisse Konsequenzen für ihr eigenes methodisches Vorgehen ziehen wird. Oder zumindest wird ihr Selbstverständnis durch die Überlegung hindurchgehen müssen, welche Anforderungen sie an ihr Reflexionswissen stellt: Ist es ein "praktisches Wissen" (wenn doch auch das Philosophieren eine Praxis ist und daher situationsbedingt und -bezogen) oder muss es dennoch den strengen Anfordungen an Systematizität und Allgemeingültigkeit genügen, die man seit alters dem "theoretischen" Wissen zuordnet?
Was nun SuZ angeht, so möchte ich thesenartig behaupten, dass Heidegger darin eine pragmatische Anthropologie entwirft, ohne dass dieser "inhaltliche" Pragmatismus auf seine philosophische Methode durchschlägt. Der Ansatz von SuZ ist dennoch ein systematischer und "theoretischer", was bereits aus der Entscheidung erhellt, eine "Ontologie" zu verfassen, also einen Beitrag zu jener überkommenen "Disziplin" zu liefern, die es als "Metaphysica generalis" mit dem "Sein des Seienden ÜBERHAUPT" zu tun hatte. Mag mancher darin eine gewisse Inkonsequenz sehen, so finde ich gerade diese Spannung "reizvoll" und philosophisch fruchtbar. Denn gerade durch den systematischen Anspruch gewinnt Heideggers Pragmatismus ein besonderes Gewicht...
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So weit meine These. Kann damit jemand etwas anfangen? (Wobei natürlich auch Zurückweisung ein "Anfang" wäre, ein willkommener sogar.)
Gruß
Hermeneuticus
Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, dass wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen. (Ludwig)