In nächster Zeit möchte ich in diesem Thread ein paar Schlaglichter auf das Leben Ludwig Wittgensteins werfen; es ist damit keine lückenlose Vita des Philosophen angestrebt, sondern es wird eine - zugegebenermaßen sehr subjektive - Auswahl an Momentaufnahmen geboten (photographischen und historischen).
Wittgenstein wird am 26. April 1889 als achtes und jüngstes Kind einer der wohlhabendsten Familien im Wien der Habsburger geboren. Das Wien des fin de siècle nimmt im Grunde alle Spannungen und Konflikte vorweg, die Europa ihren Stempel aufprägten. Karl Kraus hat von einem "Labor für das Experiment Weltuntergang" gesprochen; Wien ist Geburtsstätte von Zionismus und Nazismus, der Ort, an dem Freud seine Psychoanalyse entwickelte, Klimt, Schiele und Kokoschka den Jugendstil begründeten, Schönberg die atonale Musik und Adolf Loos den schmucklosen funktionalen Stil der Architektur. Symbol des politischen Anachronismus ist der greise Franz Joseph, seit 1848 Kaiser von Österreich; bis 1916 trägt er die Doppelkrone der K.u.K.-Monarchie.
Die Eltern Wittgensteins - Karl und Leopoldine - sind anerkannte und stolze Mitglieder des Wiener Großbürgertums; zwar lehnt Karl das Angebot sich adeln zu lassen ab, weil er als "von Wittgenstein" nicht als Parvenu gelten wollte, aber dank ihres immensen Reichtums lebt die Familie in ihrem Wiener Haus in der Alleegasse im Stil der Aristokratie. Leopoldine ist eine außergewöhnlich musikalische Frau; zu ihren Soiréen kommen u.a. Brahms, Mahler und Bruno Walter. Der Vater Karl zieht sich frühzeitig aus dem Geschäftsleben zurück und macht sich danach einen Namen als Kunstmäzen. Mit Unterstützung seiner ältesten Tochter Hermine gelingt es ihm, sich eine beachtliche Sammlung wertvoller Gemälde - u.a. von Klimt, Moser und Rodin - zuzulegen.
Der Selbstmord des Bruders Hans 1903 läßt ahnen, daß unter der durchdringenden Atmosphäre von Kultur und Humanität in der Familie Wittgenstein auch Zweifel, Spannungen und Konflikte lauerten. Die Geschichte um Hans´Tod entbehrt nicht einer gewissen Lakonik: In der Chesapeake Bay sei er von einem Boot gesprungen und ward fortan nicht mehr gesehen. - Im Mai 1904 geht der Bruder Rudolf in Berlin in eine Kneipe und bestellt zwei Bier. Dem Pianisten gibt er einen aus und bittet ihn, sein Lieblingslied zu spielen ("I am lost"); bei diesen Klängen schluckt er Zyankali und bricht tot zusammen. In einem Abschiedsbrief an die Eltern begründet er die Tat mit der Sorge, er sei "sexuell pervers". - Der älteste Bruder Kurt erschießt sich gegen Ende des Ersten Weltkrieges, weil ihm seine Truppen den Gehorsam verweigert hatten. Der Bruder Paul - Konzertpianist - verübt nicht Selbstmord. Er verliert im Krieg zwar den rechten Arm, bringt es aber mit dem linken zu solcher Meisterschaft, daß er seine Karriere fortsetzen kann. Ravel wird 1931 für ihn das berühmte "Konzert für die linke Hand" schreiben.
Ludwig dagegen wird Philosoph werden, nachdem er als Achtjähriger vor einer verschlossenen Tür steht und der Frage nachsinnt: "Warum soll man die Wahrheit sagen, wenn es einem vorteilhafter ist zu lügen?". Man schickt ihn auf die Linzer Realschule; zwei Klassen unter ihm sitzt ein gleichaltriger Schüler; auch der wird später Selbstmord begehen. Wittgenstein ist kein guter Schüler. Nur zweimal bekommt er eine "Eins" und zwar - für einen Logiker bemerkenswert - in Religion. Großen Einfluß auf Wittgenstein hat ein Machwerk Otto Weinigers - Geschlecht und Charakter . Davon später mehr. Weinigers Selbstmord datiert auf Oktober 1903; man fand ihn sterbend im Flur jenes Hauses in der Schwarzspanierstraße, wo auch Beethoven gestorben war. Der Selbstmord des gleichaltrigen Mitschülers aus der Linzer Realschule geschieht dagegen erst 1945. Sein Name ist Adolf Hitler.
Der Vater Karl
Das früheste Photo
Karl Wittgenstein mit seinen zehn Geschwistern anläßlich der silbernen Hochzeit von Hermann Christian Wittgenstein und Fanny, geb. Figdor - Wittgensteins Großeltern
"Seht ihr den Mond dort stehen? - / Er ist nur halb zu sehen / Und ist doch rund und schön!" (Matthias Claudius) [ein letztlich von Wittgenstein verworfener Mottovorschlag für seine "Philosophischen Untersuchungen".
Geschlecht und Charakter von Otto Weiniger ist ein Buch, welches den Verfall der Moderne zum Leitmotiv hat. Der Triumph von Wissenschaft und Geschäft erscheint darin als eine Folge des Niedergangs von Kunst und Musik. Die Moderne dagegen ist "... die Zeit, für welche die Kunst nur ein Schweißtuch ihrer Stimmungen abgibt ... die Zeit des leichtgläubigsten Anarchismus ... die Zeit ohne Sinn für Staat und Recht ... die Zeit der seichtesten unter allen denkbaren Geschichtsauffassungen ... die Zeit, die das Genie für eine Form des Irrsinns erklärt hat ... " - Es ist aus dem späteren Schaffen Wittgensteins nicht recht verständlich, daß Geschlecht und Charakter für den jungen Wittgenstein eines der Bücher war, die ihn nachhaltig beeindruckt haben. In weiten Teilen soll es Weinigers Frauenhaß und seinen Antisemitismus rechtfertigen. Seine Hauptthesen sind, daß das Wesen der Frau "von der Geschlechtlichkeit gänzlich ausgefüllt" sei, "nichts als Sexualität". Während der Mann Sexualorgane besitze, sei die Frau von ihren Sexualorganen besessen. Der Mann habe ein breites Interessensfeld, in dem sich Sport, Soziales, Philosophie, Wissenschaft, Geschäft, Politik, Religion und Kunst wiederfänden; die Frau dagegen gehe ganz in der Sexualität auf: "M lebt bewußt, W lebt unbewußt." - Außerdem seien Frauen - ob Mütter oder Prostituierte - darin gleich, einen Hang zur Kuppelei zu besitzen. - Was mag Wittgenstein an diesem blühenden Unsinn bewundert haben? Vielleicht Weinigers Verständnis von Genie: Jeder Mann sei moralisch verpflichtet, sich zwischen Bewußt und Unbewußt, Wille und Trieb, Liebe und Sexualität zu entscheiden. Logik und Ethik seien im Grunde ein und dasselbe: "Pflicht gegen sich selbst". Zwar werde der Mensch ohne Seele geboren, habe aber das Potential, eine Seele auszubilden. Dieses kann natürlich nur dem Mann gelingen und zwar vornehmlich dann, wenn er keine Frau liebt, sondern sich selbst - genauer das Göttliche in ihm, "den Gott, der in seinem Innern wohnt". In der "Praxis" bedeutet das, daß der Mann dem Paarungstrieb der Frau widerstehen und sich vom weiblichen Druck zur Sexualität befreien muß. "Die Verneinung der Sexualität tötet bloß den körperlichen Menschen und ihn nur, um dem geistigen erst das volle Dasein zu geben. - Also: Genialität anstreben oder sterben.
Weiniger deutet damit das moralische Gesetz Kants um; genial zu werden ist danach nicht bloß ein edles Ziel, sondern das Postulat eines kategorischen Imperativs. Die Selbstmordgedanken Wittgensteins, die zwischen 1903 und 1912 immer wiederkehren, verschwinden erst, als Russell ihm Genialität bescheinigt; wahrscheinlich hat Wittgenstein sich also diesen Weiniger´schen Imperativ (genial werden oder sterben) zu eigen gemacht.
Im Frühjahr 1908 jedenfalls ist Wittgenstein entschlossen, seine philosophischen Ambitionen aufzugeben. Er ist 19 Jahre alt, als er nach Manchester geht, um Flugzeugbau zu studieren.
(Wittgenstein und Eccles bei Drachenflugexperimenten in Glossop) _____________________________________________
"Seht ihr den Mond dort stehen? - / Er ist nur halb zu sehen / Und ist doch rund und schön!" (Matthias Claudius) [ein letztlich von Wittgenstein verworfener Mottovorschlag für seine "Philosophischen Untersuchungen".
An der Geburtsstätte der europäischen Philosophie, im 6. und 5. vorchristlichen Jahrhundert, sind Philosophie und Wissenschaften noch nicht getrennt. Die ersten Philosophen sind auch "Physiologen", Naturphilosophen, die sich an der heutigen Westküste der Türkei - die Griechen nannten den mittleren Abschnitt Ionien - mit Fragen der "physis", der Natur, beschäftigen. - Auch Wittgenstein interessiert sich für die Natur ... für Wissenschaft ... für Technik. Er möchte ein selbstentworfenes Flugzeug bauen. Fünf Jahre zuvor, im Dezember 1903 hatte Orville Wright mit der Kitty Hawk die Lüfte "erobert": er "flog" 12 Sekunden lang und legte dabei 37 Meter zurück (10,8 km/h). - Wittgenstein beginnt seine Forschungen mit Experimenten zum Entwurf und Bau von Drachen. Er arbeitet im Kite Flying Upper Atmosphere Stadion, einer Wetterwarte in der Nähe von Glossop. Er wohnt erstmals alleine und zwar in einer einsamen Herberge an den Derbyshire Moors, im Grouse Inn . Einsamkeit, einfaches Essen, der desolate Zustand der sanitären Anlagen und der ständige Regen machen ihm zu schaffen. Es ist seine Aufgabe, die Wetterstation mit Drachen (zur Feststellung meteorologischer Daten) zu versorgen, die sonst immer von außen bestellt worden waren. Im Grouse Inn ist er der einzige Gast; doch dann kommt ein zweiter Gast an: William Eccles, Ingenieur und vier Jahre älter als Wittgenstein. Er findet Wittgenstein im Aufenthaltsraum - umgeben von Büchern und Zetteln, die über Tische und Boden ausgebreitet sind. Eccles kann keinen Schritt tun, ohne auf Papier zu treten. Als er niederkniet und anfängt aufzuräumen, beginnt zwischen den beiden Männern eine enge Freundschaft.
Noch im Herbst 1908 schreibt sich Wittgenstein als Forschungsstudent an der Abteilung Maschinenbau der Universität Manchester ein. Er ist nicht angehalten, einen akademischen Grad anzustreben, sondern er soll nach eigenem Gutdünken forschen. Einer der Professoren in dieser Abteilung ist der Mathematiker Horace Lamb. Dieser ist mathematischen Gleichungen beschäftigt und es dauert nicht lange und Wittgenstein entdeckt für sich ein Forschungsfeld, das ihn immer wieder interessieren wird: die reine Mathematik. Einmal pro Woche kommt er nun mit zwei Mitstudenten zusammen und einer der Kommilitonen bringt bei diesen Zusammenkünften eines Tages ein Buch mit - die fünf Jahre zuvor erschienenen Principles of Mathematics von Bertrand Russell. -
Zwar wird sich Wittgenstein noch zwei Jahre mit dem Flugzeugbau befassen, aber eigentlich ist er fortan besessen von den mathematischen Problemen Russells. Das Hauptthema der Principles of Mathematics war die gegen Kant und andere Philosophen gerichtete These, daß man die gesamte reine Mathematik aus nur wenigen logischen Grundprinzipien ableiten kann - oder anders gesagt: Mathematik und Logik seien ein und dasselbe. Kant war der Meinung gewesen, Mathematik gründe in der "Erscheinungswelt", in unseren "Anschauungsformen" von Raum und Zeit. - Noch während der Drucklegung der Principles wird Russell auf ein Buch aufmerksam, welches sein Projekt im Grunde vorweggenommen hatte; es heißt Grundgesetze der Arithmetik und stammt von dem deutschen Mathematiker Gottlob Frege. Freges Buch war bis dahin kaum beachtet worden; erst als Russell seinen Principles den Essay The Logical and Arithmetical Doctrines of Frege hinzufügt, gelingt auch Freges Werk der Durchbruch. Russell lobt in diesem Essay die Arbeit Freges, doch stößt er dabei auf ein Problem, dessen Lösung sich alsbald als härteste Nuß der mathematischen Grundlagentheorie entpuppt. In einem zweiten Anhang der Principles fügt Russell eine "Theorie der logischen Typen" bei, um gewissen mathematischen Antinomien zu entgehen. Russell selbst jedoch war nicht recht zufrieden damit und schließt so: "Ich habe keine umfassende Lösung des Problems gefunden; da sie aber die Grundlagen des Denkens betrifft, möchte ich alle Logiker dringlich aufrufen, sich der Sache anzunehmen." -
Einer, der sich "der Sache annahm" war Wittgenstein. Er studiert eingehend Russells Principles und Freges Grundgesetze und bis April 1909 hat er eine Lösung formuliert, die er Russells Freund Philip E.B. Jourdain vorlegt. Jourdain aber zeigt sich sehr skeptisch Wittgensteins "Lösung" gegenüber, was Wittgenstein wahrscheinlich dazu bewogen hat, erst einmal beim Flugzeugbau zu bleiben. Doch zwei Jahre später ist es soweit: Wittgensteins Tage als Flugzeugingenieur sind im Oktober 1911 gezählt. Er möchte sich mit einer ausgefeilten philosophischen Konstruktion direkt an Frege und Russell wenden. In einem fast pathologischen Zustand der Erregung faßt er den Plan, ein philosophisches Buch zu schreiben.
Davon demnächst mehr ... _____________________________________________
"Seht ihr den Mond dort stehen? - / Er ist nur halb zu sehen / Und ist doch rund und schön!" (Matthias Claudius) [ein letztlich von Wittgenstein verworfener Mottovorschlag für seine "Philosophischen Untersuchungen".