Nauplios:
In den bisherigen Kapiteln ging es um die Distanz, welche der Lukrez´sche Zuschauer gegenüber dem rücksichtslosen Eigensinn der physischen Wirklichkeit gewinnt. Der Mensch ist gut beraten, sich mit der Rolle des Zuschauers zu begnügen und seinen philosophischen Standort vor und über der Naturwelt nicht zu verlassen. - Das vierte Kapitel nun thematisiert nicht mehr das Unbeteiligtsein gegenüber den Kräften der Natur, sondern die Zuschauerposition im Hinblick auf die Geschichte. Überlebenskunst hat hier den Sinn der Rettung einer Geschichte vor der Geschichte. Als Veranschaulichung dient Goethes Beobachtung der Schlacht bei Jena vom 14. Oktober 1806, in der Preußen den Truppen Napoleons unterlegen war. Goethe war von diesem Zeitpunkt an voller Bewunderung für Napoleon, mit dem er ja dann am 2. Oktober 1808 eine persönliche Begegnung in Erfurt hatte und der ihm den Orden der Ehrenlegion verlieh. Über die Schlacht bei Jena schreibt Goethe in sein Tagebuch: „Abends um 5 Uhr flogen die Kanonenkugel durch die Dächer. Um ½ 6 Einzug der Chasseurs. 7 Uhr Brand, Plünderung, schreckliche Nacht. Erhaltung unseres Hauses durch Standhaftigkeit und Glück.“ Die „Standhaftigkeit“, von der Goethe hier spricht, ist wohl eher die Resolutheit Christianes, die die marodierenden Soldaten, welche das Goethehaus plündern wollten, kurzerhand hinauswarf.
Ein paar Monate später, im Mai 1807 findet im Hause des Lukrez-Übersetzers Carl Ludwig von Knebel ein Gespräch zwischen dem Historiker Heinrich Luden und Goethe statt, von dem Luden erst 40 Jahre später in seinen Rückblicken in mein Leben berichtet. Luden wurde 1806 als außerordentlicher Professor der Geschichte nach Jena berufen und war damit unmittelbarer Nachfolger des 1805 verstorbenen Friedrich Schiller. Er wird später am ersten Wartburgfest (1817) teilnehmen, was beinahe zu seiner Amtsenthebung geführt hätte. Auf diesem Wartburgfest bei Eisenach kommt es zu einer Bücherverbrennung; unter anderem wird auch ein Code Napoleon (auch Code Civil genannt – das französische Gesetzbuch zum Zivilrecht) unter allgemeinem Jubel den Flammen übergeben. Nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon hoffte man vor allem auf die deutsche Reichseinheit, die sich allerdings nach dem Wiener Kongreß von 1815 als Illusion erwies. Das mag die politische Frontstellung zwischen dem Patrioten Luden und dem Napoleonbewunderer Goethe verdeutlichen.
Nachdem man ein wenig über den Faust gesprochen hat, kommt man auf das Thema der politischen Geschichte zu sprechen. Luden fragt Goethe, wie es ihm in jenen Tagen ergangen sei und zur Überraschung Ludens und Knebels greift Goethe zu einem Bild, das dem Lukrez-Übersetzer Knebel bestens vertraut ist: „Ich habe gar nicht zu klagen. Etwa wie ein Mann, der von einem festen Felsen hinab in das tobende Meer schauet und den Schiffbrüchigen zwar keine Hilfe zu bringen vermag, aber auch von der Brandung nicht erreicht werden kann, und nach irgendeinem Alten soll das sogar ein behagliches Gefühl sein.“ Der Historiker ist entsetzt über die „Behaglichkeit“, mit der Goethe „wohlbehalten dagestanden“ hat. Goethe jedoch „sagte kein Wort und verzog keine Miene“. Goethes Unbeteiligtsein und seine (scheinbare) Indifferenz gegenüber einem Ereignis von welthistorischer Bedeutung klingt schon ein wenig an in einem Brief Knebels an Jean Paul vom 8. Januar 1807. Dort heißt es: „Wir (Knebel und Goethe) studieren hier unter seiner Anleitung Osteologie, wozu es passende Zeit ist, da alle Felder mit Präparaten besät sind.“ Preußen wird von den Soldaten Napoleons entscheidend geschlagen und Goethe betreibt Knochenkunde auf den Jenaer Schlachtfeldern.
Goethes Schweigen nach Jena ist ein Ärgernis für den „politischen Professor“ Heinrich Luden, der auch in der Zeit der Schmach und Schande, die Sache des Vaterlandes nicht verloren geben kann. Der engagierte Patriot – und später das Junge Deutschland – trifft auf einen olympischen Zuschauer, der 1807 noch unanfechtbar ist. Goethe zeigt sich unbetroffen und unbeeindruckt vom militärisch-politischen Schiffbruch und der damit verbundenen geschichtlichen Katastrophe. Goethe ist der Gedanke der Geschichtsphilosophie fremd. Anders als Hegel, der ja die Geschichte als einen Reflexionsprozeß sieht, in dessen Verlauf der Mensch sich selbst und seine Voraussetzungen versteht, steht Goethe dem Geschichtsstolz der Aufklärung skeptisch gegenüber. In Dichtung und Wahrheit heißt es, daß „das Absurde eigentlich die Welt erfülle.“ Historischer Fortschritt und Untergang hinterlassen auf dem Meer der Geschichte keine Spuren, sondern dieselbe unberührte Oberfläche.
TemporarySilent:
Lieber Nauplios!
Der zentrale Satz ,der mir wirklich die Relevanz des 4.Kapitels enthüllte, stammt von Dir und nicht von Blumenberg ;-) : „Goethe zeigte sich unbetroffen vom militärischen und unbeeindruckt vom militärisch- politischen Schiffbruch und der damit verbundenen geschichtlichen Katastrophe“.
Mittels Deines „Leitsatzes“ hatte ich das Kapitel erneut gelesen - mit dem Resultat einer völlig veränderten Wahrnehmung dieser Dimension der Schiffbruchsmetapher.
So zeigt denn gerade dieses Kapitel, dass die notwendige Distanz zur Geschichte, auch die zur eigenen Geschichte überlebensnotwendig ist. Denn eine mangelnde Distanz beim Fehlen einer „unberührten“ Meeresoberfläche“ impliziert die Frage: Wie viel muss untergehen, damit etwas Neues entsteht oder reformuliert: Was ist das Telos der Geschichte? Wird denn das, was „aufgeht“ zum Sinn dessen, was „untergeht“?
Eine Frage, die diese Dimension der Schiffsbruchmetaphorik elegant „umschifft“. Hier bedeutet Distanz eine Abkehr. Die Metapher dient der Vermeidung. Blumenberg positioniert Goethe als Zuschauer, der den Niedergang der „Illusionen“ der Aufklärung und der Jenaer Wirren überlebt, der sich langsam aus seiner Krise erholt. Diese Dimension der Schiffsbruchsmetapher ist hier ein Mittel der Ausflucht vor dem Unerträglichen, vor der Sinnlosigkeit historischer Funktionalität.
"Wir sind hier alle Individualisten. " - "Nein, ich nicht, ich bin der einzige, der kein Individualist ist. " (Das Leben des Brian)