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Nauplios Offline




Beiträge: 41

22.07.2005 02:34
Begegnung in Vechta Antworten

Ihr Lieben!

Irrfahrten sind in der europäischen Literatur seit Homers "Odyssee" ein vertrautes Genre. Von Cervantes über Stevenson bis hin zu Goethe, Humboldt und den Reisebeschreibungen des 18. Jahrhunderts - zu den "Wilden" - : Reisen sind verknüpft mit Abenteuern. Wer heutzutage Abenteuerliches erleben will und dazu nicht künstlich erzeugten "Abenteuerurlaub" buchen mag, der fahre einmal von Münster nach Vechta. Unerschrockene nehmen dafür die Bahn.

11.28 Uhr: Der Zug verläßt meine Heimatstadt. Ich schaue aus dem Fenster; es regnet. Natürlich fahre ich nicht ohne Buch. Aber zu Luhmanns "Beobachtungen der Moderne" komme ich nicht so recht. Gegenüber sitzt eine Mutter mit zwei Kindern. Es gibt Streit ums Malbuch. Weiter hinten hat sich eine holländische Kolonie eingerichtet. Man ruft einander laut zu. Gelächter. Bierdosen werden geöffnet.

11.55 Uhr: Der IC hat 20 Minuten Verspätung. Das wäre für sich genommen noch nicht tragisch, aber dadurch verpasse ich den Anschlußzug in Osnabrück. TemporarySilent wird eine Stunde auf mich warten müssen. Ich nehme an einer windigen Stelle auf einer Bank Platz und versuche, Luhmanns Ausführungen über "Kontingenzverarbeitung" zu folgen. Kontingenzverarbeitung - daran mangelt es jetzt vor allem. Kontingenz heißt: nicht notwendig, aber nicht unmöglich. Als Beispiel fällt mir - nicht notwenig, aber nicht unmöglich - der Fahrplan der Deutschen Bahn ein.

13.40 Uhr: In Bramsche wird der Zug "geteilt". Natürlich sitze ich im falschen Teil ... im Laufschritt dem Zugpersonal hinterher.

14.35 Uhr: Endlich am Ziel. TemporarySilent ist sehr verständnisvoll; sie hat in der Zwischenzeit den Bahnhof von Vechta inspiziert.

14.40 Uhr: Ungemütliches Wetter. Wind, Regen. Wir sitzen in einem kleinen Café im Zentrum von Vechta. Es dauert nicht lange bis sich eine erste Vertrautheit einstellt. Mit Musil zu reden: Seinesgleichen geschieht. :-))

16.45 Uhr: Nauplios und TemporarySilent kaufen einen Regenschirm.

17.30 Uhr: Nach Auskunft einer Bürgerin von Vechta ist das Restaurant "Holzwurm" zu empfehlen. Wir sind die ersten Gäste an diesem Donnerstagabend. Der Holzboden knarrt. Der griechische Wirt entschuldigt sich dafür, daß die Musikanlage nicht funktioniert. Dafür funktioniert die Schlagbohrmaschine. Obwohl sich das Lokal im Laufe der nächsten Stunde mit Gästen füllt, läßt der Wirt von seiner Bohrtätigkeit nicht ab. Eine Kreissäge leistet der Bohrmaschine inzwischen Gesellschaft. Temp und ich entscheiden uns für vertraute Menüs. Die "Rehakles-Platte" ist uns suspekt.

19.30 Uhr: Die Regionalbahn von Vechta nach Osnabrück fährt pünktlich ab; kommt aber nicht pünktlich an. Dafür ist diesmal der IC pünktlich und also bereits seit 10 Minuten fort. Ich habe eine Stunde Aufenthalt in Osnabrück. In einem Stehcafé bestelle ich ein Bier. Junge Männer schlendern mit suchenden Augen in der Bahnhofshalle auf und ab. Vier Frauen in vorgerücktem Alter und vorgerückter Stimmung kaufen vier "Jägermeister"; eine von ihnen hat Blickkontakt mit mir aufgenommen. Ich lasse das Bier stehen und begebe mich zu Gleis 1.

21.30 Uhr: Der Zug ruckelt durchs Münsterland. Die Namen der Haltestellen, die eine näselnde Stimme übers Mikrophon durchgibt, lösen Zuversicht aus.

22.25 Uhr: Ich klappe "Beobachtungen der Moderne" zusammen. Nur noch wenige Minuten und der Höhleneingang der heimischen Klause wird sich öffnen. "Zurück nach Ithaka zu kommen, verlohnt den weitesten Umweg." (Hans Blumenberg)


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"Seht ihr den Mond dort stehen? - / Er ist nur halb zu sehen / Und ist doch rund und schön!" (Matthias Claudius) [ein letztlich von Wittgenstein verworfener Mottovorschlag für seine "Philosophischen Untersuchungen".

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