Am Ende des 19. Jahrhunderts gelten vor allem drei Lyriker im deutschsprachigen Raum als "bedeutend" - Detlev von Liliencron, Hugo von Hofmannsthal und Richard Dehmel. Letzerer bringt 1896 einen Gedichtband heraus, der in bürgerlich gebildeten Kreisen für Aufregung sorgt: Weib und Welt . Eines der Gedichte heißt "Verklärte Nacht".
Zwei Menschen gehen durch kahlen, kalten Hain;
Der Mond läuft mit, sie schaun hinein.
Der Mond läuft über hohe Eichen,
kein Wölkchen trübt das Himmelslicht,
in das die schwarzen Zacken reichen.
Die Stimme eines Weibes spricht:
Ich trag ein Kind, und nit von Dir,
ich geh in Sünde neben Dir.
Ich hab mich schwer an mir vergangen.
Ich glaubte nicht mehr an das Glück,
und hatte doch ein schwer Verlangen
nach Lebensinhalt, nach Mutterglück
und Pflicht; da hab ich mich erfrecht,
da ließ ich schaudernd mein Geschlecht
von einem fremden Mann umfangen,
und hab mich noch dafür gesegnet.
Nun hat das Leben sich gerächt:
Nun bin ich Dir, o Dir begegnet.
Sie geht mit ungelenktem Schritt.
Sie schaut empor; der Mond läuft mit.
Ihr dunkler Blick ertrinkt in Licht.
Die Stimme eines Mannes spricht:
Das Kind, das Du empfangen hast,
sei Deiner Seele keine Last,
o sieh, wie klar das Weltall schimmert!
Es ist ein Glanz um alles her,
Du treibst mit mir auf kaltem Meer,
doch eine eigne Wärme flimmert
von Dir in mich, von mir in Dich.
Die wird das fremde Kind verklären,
Du wirst es mir, von mir gebären;
Du hast den Glanz in mich gebracht,
Du hast mich selbst zum Kind gemacht.
Er faßt sie um die starken Hüften.
Ihr Atem küßt sich in den Lüften.
Zwei Menschen gehen durch hohe, helle Nacht.
Kaum nachvollziehbar aus heutiger Sicht, was vor gut hundert Jahren die Gemüter daran erhitzte. Vielleicht hat es in Schönberg deshalb einen so empfänglichen Leser gefunden, weil dieser gerade um die vierundzwanzigjährige Schwester seines Freundes und Kompositionslehrers Zemlinsky, Mathilde, warb. Schönberg braucht gerade mal drei Wochen zur Komposition seines op. 4. In der Deutschen Tonkünstler-Zeitung schreibt er über die Verklärte Nacht : "Bei der Komposition von Richard Dehmels Gedicht Verklärte Nacht leitete mich die Absicht, in der Kammermusik jene neuen Formen zu versuchen, welche in der Orchestermusik durch Zugrundelegen einer poetischen Idee entstanden sind. Zeigt das Orchester die gleichsam episch-dramatischen Gebilde tondichterischen Schaffens, so kann die Kammermusik die lyrischen oder lyrisch-epischen darstellen." - Die neben der eigentlichen Komposition selbständige Leistung Schönbergs ist also die Anwendung gestalterischer Prinzipien aus dem Bereich der symphonischen Dichtung auf das Gebiet der Kammermusik, das bis dahin als [i]die[/] Domäne der "absoluten" Musik schlechthin gegolten hatte. -
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"Seht ihr den Mond dort stehen? - / Er ist nur halb zu sehen / Und ist doch rund und schön!" (Matthias Claudius) [ein letztlich von Wittgenstein verworfener Mottovorschlag für seine "Philosophischen Untersuchungen".