Mit meinem ersten kleinen Beitrag möchte ich diese neue Rubrik eröffnen:-) Das 19. Jahrhundert ist breit gefasst, also habe ich zunächst einmal (nicht wahllos) eine Blume aus dem bunten Strauss gepflückt.
Die Weltanschauung der jungen Generation in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts gründete sich auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaft, deren Geist und Methode alle Bereiche des Lebens durchdrang. Man sah im Menschen ein Stück Natur, das sich nach den Regeln strenger Kausalität aus seiner Umwelt und Erbmasse erklären liess. Eine Abkehr von bürgerlichen Illusionen und Pseudoromantik. Anschluss an die "unmittelbare Wirklichkeit" - das war die Losung. Darstellung von Zuständen in photographischer Treue. Seelische Vorgänge sollten mit der Präzision der psychologischen Forschung erhellt werden.
In der naturalistischen Dichtung wurde das starke soziale Mitgefühl mit den unteren Volksschichten wirksam. Sozusagen der Blick auf die dunkle Seite der Existenz, auf den proletarischen Menschen, der in den Elendsquartieren der Großstädte hausst.Das Mitgefühl mit dem Menschen, der von Erbe und Umwelt bestimmt und deren Gewalten in seinem Inneren ausgeliefert ist. Das Leiden der Menschen an ihrer Ohnmacht. In Gerhart Hauptmann's "Fuhrmann Henschel" bricht Henschel den Schwur, den er seiner sterbenden Frau getan hat, und heiratet die herrschsüchtige, triebhafte Magd Hanne Schäl. Ihre Lieblosigkeit und Untreue empfindet er als Strafe für den Bruch seines Schwurs und begeht Selbstmord. "Ich hab's woll gemerkt in mein'n Gedanken..."ane Schlinge ward mir gelegt, und in die Schlinge trat ich halt' nein....schlecht bin ich gewor'n, bloß ich kann nischt dafier."
"Das Leiden der Menschen an Ihrer Ohnmacht." Was ist die Konsequenz aus diesem Leiden? Hier scheint die Philosophie gefragt zu sein und darüber weiss ich leider (noch) zu wenig. Vielleicht kann mir jemand aus der "philosophischen Ecke" des Boards ein paar verständliche Worte dazu als weiteren Anstoss posten.
Die Natur kommt der Artikulation unserer Gefühle mannigfach entgegen. Indessen ist sie nicht die Artikulation der Gefühle. Die Natur ist nicht das objektive Alphabet der Emotionen, aus ihr herauszulesen wie aus einem Buch, wie es die librum-naturae- Tradition nahelegte. Vielmehr scheint es so zu sein, daß die Artikulation der Gefühle uns auch, wenn nicht besonders deswegen gelungen ist, weil die unbegrenzte Vielheit der Naturkorrespondenzen uns zur sukzessiven, also historischen Differenzierung und Versprachlichung unserer Gefühle verholfen hat. Das heißt: im geschichtlichen Prozeß der Vermannigfaltigung von Naturkorrespondenzen erkennen wir zugleich den Prozeß der kulturellen Ausdifferenzierung der Gefühle, Stimmungen, Atmosphären, Befindlichkeiten. In dieser Weise kann man davon sprechen, daß auf dieser Erde, unterschieden nicht nur nach den Kulturen, sondern auch nach Dingformationen, Landstrichen, Klimata, ein unsichtbares Netz von Korrespondenzen zwischen Gefühlen und Natur entwickelt worden ist. Darin ist eine ganz andere Einsicht in die "Natur unserer Gefühle" aufbewahrt, als die anthropozentrische Seelen- Psychologie sich träumen läßt. Wenn Meyer-Abich von der Kultur als menschlichem Beitrag zur Naturgeschichte spricht, so darf man hier wohl umgekehrt sagen, daß die Natur immer schon,kraft der Korrespondenzen, die ihr eignen, einen unschätzbaren Beitrag zur Kulturgeschichte, hier zur Differenzierung der Gefühle geleistet hat. Doch, wohlbemerkt: dies ist so, ohne daß die Natur ein Subjekt sein müßte, welches "beiträgt" oder "etwas leistet" -: es sei denn durch nichts als durch die stummen Korrespondenzen, die sie dem Menschen - nicht bietet, sondern sein kann. Dieses Sein-Können korresponsiver Natur wird kulturgeschichtlich freigelegt - doch nicht ohne Rückkoppelung und Voraussetzung eines fundamentum in re. Fragen wir danach, wie das möglich ist, so ist die Antwort einfach - man hat sie gleichsam nur vergessen. Der Mensch ist Lebewesen aus und in der Natur. Er hat sich nicht aus sich selbst. Der Mensch zeugt, nach Aristoteles, den Menschen - und so gewiß dies wahr ist, so auch, daß er dies nur kann, weil er darin sich als Lebewesen (als Natur) realisiert und Natur sich durch ihn vermittelt. Der Mensch verdankt sich nicht der Reflexion, die ihn zweifellos im Kreis der Natur einzigartig macht. Sondern die Reflexion ist die Sphäre, an welchem der Mensch sich gewahr wird als Wesen, das sich anderen und anderem verdankt - gerade auch in seinem Selbstsein. Was die Kraft der dialogischen Kommunikation in der sozialen Genese des Menschen bedeutet, das ist die Kraft der Korrespondenzen in seinem naturgeschichtlichen Werden. Dieses fundiert und begleitet die Soziogenese bis heute, so gewaltig auch die Verschiebungen sein mögen, die hinsichtlich der Relevanz-Hierachien zwischen natürlichen und sozialen (artifiziellen) Objekten zu beobachten sind. Die Möglichkeit der Naturästhetik hängt mithin an einer anthro- pologischen Struktur, die Robert Spaemann die "Indirektheit des Selbstverhältnisses" nennt. Ohne die Anerkennung der Subjektstellung der Anderen vermögen wir nicht unserer selbst gewahr zu werden. Dies ist für die kommunikative Genese des Subjekts ohne weiteres einsichtig. Hier jedoch kommt es darauf an zu verstehen, daß ohne die Anerkennung der anderen Andersheit der Natur und ihrer Dinge wir niemals über das Spiegelgefängnis des Narzißmus hinauskämen; wir müßten mithin am Erfordernis der Indirektheit unseres Selbstverhältnisses scheitern. Wie dies klassisch Ovid an seinem Narziß geschildert hat. Wenn wir unsere Trauer artikulieren und differenzieren lernen auch kraft der nicht-intendierten, mitspielenden Korrespondenzen der Natur, dann handelt es sich um mehr als bloße Projektion, die nur durch Introjektion zurückzunehmen wäre, um den Gefühlen ihren 'eigentliches Seinsort' anzuweisen, das Innerseelische nämlich. Wenn dies zuträfe, dann wären im Verhältnis zur Seele alle Gefühlskorrespondenzen der Natur unaufgeklärte, im magischen Animismus wurzelnde Metaphern -: uneigentliches Sprechen also. Zwar finden Gefühle, in ihrer außersprachlichen Inkommensurabilität, zur Sprache und damit zur Kommensurabilität - wenigstens in der Form der intersubjektiv -allgemeinen Symbole. Gefühle finden aber zur Sprache auch und gerade dadurch,daß die reichen, nuancierten Naturkorrespondenzen in der Sprache (der Literatur) zu individualisierenden, mithin doch wieder inkommensurablen Artikulationen werden. Dies ist ein ebenso sprachgeschichtliches wie anthropologisches Faktum.
Metaphysiker
_________________________________________________ Friedrich wandelten bei dem preziösen Ton ihrer Stimme die Entzückungen eines Trinkenden an, der am Verdursten gewesen ist. Gleichzeitig brannte sein ganzes Wesen in Eifersucht. (Gerhart Hauptmann)
In Antwort auf: Das Leiden der Menschen an Ihrer Ohnmacht." Was ist die Konsequenz aus diesem Leiden? Hier scheint die Philosophie gefragt zu sein und darüber weiss ich leider (noch) zu wenig. Vielleicht kann mir jemand aus der "philosophischen Ecke" des Boards ein paar verständliche Worte dazu als weiteren Anstoss posten.
Dear Ton
LOL, I am not concerned with Gerhart Hauptman´s style of prosa but presumably I can show you a linkage between philosophy and literature. In the nineteenth century, with the beginning of what Rorty calls the culture of the man of letters, that is the culture of the "intellectual who wrote poems and novels and political treatises, and criticisms of other people's poems and novels and treatises", the importance of philosophy began to be doubted. Writers like Proust - remain in their writings in relation to their own, private, idiosyncratic past, rewinding objects, people and events (using, for instance, that memoire involontaire), making redescriptions of their surrounding in their own vocabulary, in their own terms. They aim at autonomy, redescribing in their works those who once described themselves. They free themselves from foreign authorities, showing their relativity, their finiteness, their transitoriness.
Consequently, scientists became isolated at the beginning of the twentieth century from the majority of intellectuals, just like theologians had been isolated before. Poets and novelists became, to use Rorty's favorite formulation, the moral teachers of the youth, and the more philosophy wanted to be "scientific" or "exact", the more it drifted away from the rest of culture and thereby the more absurd became its traditional claims to being a foundational discipline for the whole of culture. The point is not that the philosopher has to write about literature; instead, the point may be that he re-thinks the very knot of relations between philosophy and literature. It is sometimes not the investigation of how philosophy approaches its "object" and "sharpens" its philosophical "tools" (Hegel) that lies at the heart of the question; it may also lie in the relations between the two.
In the face of the restricted influence of philosophy in general on delicate matters of social life in a time of the collapse of the traditional Enlightenment figure of the intellectual, the chance, perhaps the last chance, of shaping liberal sensitivity is provided by the novel (and let us bear in mind that we belong to a culture that was not only nourished by the "Bible, Socrates, Plato, and the Enlightenment" but also, as Rorty says, by "Rabelais, Montaigne, Sterne, Hogarth and Mark Twain").
regards
Blue ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ The existence of truth only becomes an issue when another sort of truth is in question. (R.Rorty)
Gegenwärtig lese ich gerade Atlantis von Hauptmann, sodaß der "Hauptmann- spezifische" Kommentar an etwas späterer Stelle erscheinen wird. Im allg. teile ich die Auffassung Blue´s hinsichtlich der Verbindung zwischen Literatur und Philosophie, wobei ich noch eine best. Passage unterstreichen möchte, auf die sich Blue bezieht:
In Antwort auf:
The point is not that the philosopher has to write about literature; instead, the point may be that he re-thinks the very knot of relations between philosophy and literature. It is sometimes not the investigation of how philosophy approaches its "object" and "sharpens" its philosophical "tools" (Hegel) that lies at the heart of the question; it may also lie in the relations between the two.
Rorty's account of the relationship between philosophy and literature, while convincing, is perhaps too simple. It is similar to the approach taken by Zygmunt Bauman in Intimations of Postmodernity, where it is suggested that, in the past, philosophy and literature (when the former was still Philosophy) stood on opposite sides of a dichotomy, paradigmatic cases of the oppositions subjective/objective, rational/irrational, scientific/non-scientific, doxa/episteme (opinion and knowledge), contingent/universal, and historical/ahistorical (and still earlier the opposition of logos and mythos, that is to say, philosophers and poets). Nowadays - if one were to abandon the traditional account of truth, objectivity and rationality - philosophy would not stand on the side of the objective, the rational, and the atemporal. One side of the dichotomy would have to disappear, and the dichotomy itself would share its fate. So what might separate philosophy and literature today? The answer common to Rorty and Bauman is different books, different traditions, and, finally, a different history; for philosophy, like literature, cannot escape from its history and historicity, although it is sometimes difficult to remember that (the philosophy of Rorty himself is just a "contingent" product of liberal American culture of the end of the twentieth century). It so happened, but it could have happened in a quite different way.
Best wishes,
Temp=) ¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯ A brave man once requested me to answer questions that are key is it to be or not to be and I replied:"so why ask me?" _______________________________________