Die Vermittlungsschwierigkeiten wissenschaftlicher und philosophischer Erkenntnisse an ein breites, "ungelehrtes" Publikum und die damit einhergehende Unterscheidung von wissenschaftlichen und "populärwissenschaftlichen" Schriften ist nicht nur der Neuzeit mit ihrem Spezialistentum vertraut. Schon bei Aristoteles unterschied man in der Antike "akroamatische" Schriften (zum Hören bestimmt) und "veröffentlichte" Schriften (für die Außenwelt bestimmt). - Später hat man die "akroamatischen" Schriften auch die esoterischen genannt; Aristoteles selber spricht auch von "Darlegungen nach Maßgabe der Philosophie" und in unserem modernen alltagssprachlichen Sinn könnten wir von "streng wissenschaftlichen" Werken reden. Diese "esoterischen Schriften" waren gedacht für den schulinternen Gebrauch, als Gedächtnisstütze etwa für den Lehrvortrag und gelegentlich bezieht sich Aristoteles auch auf Stellen in den "veröffentlichten", exoterischen Schriften. - Das Auseinanderdriften von Popularphilosophie und Philosophie als Wissenschaft deutet sich also bereits hier bei Aristoteles an.
Der Historiker Strabo berichtet uns von der abenteuerlichen Geschichte und den glücklichen Umständen der Erhaltung der unveröffentlichten, für den schulinternen Gebrauch bestimmten Manuskripte des Aristoteles. Nahezu zwei Jahrhunderte lang sollen sie in einem Keller in Skepsis, einer Stadt in der Nähe von Troja gelegen haben. Einer der letzten Schüler des Aristoteles, ein gewisser Neleus, hatte sie von Theophrast, dem Aristotelesnachfolger im Peripatos, geerbt. Ein Büchersammler namens Apellikon hat sie schließlich dort entdeckt und brachte sie zurück nach Athen. Nach der Eroberung der Stadt durch Sulla im Jahre 86 v. Chr. gelangte die Sammlung des Apellikon - und mit ihr die aristotelischen Manuskripte - als Kriegsbeute nach Rom. Der Grammatiker und Philologe Tyrannion, ein Bekannter Ciceros, hatte dort Zugang zu den Manuskripten und regte seinen Schüler Andronikus an, eine Buchausgabe herauszugeben. Diese Ausgabe des Andronikus wurde - bis heute - die Grundlage der weiteren Überlieferung der aristotelischen Philosophie. - Die literarischen Werke, also die populären, "exoterischen" Schriften von Aristoteles gingen verloren.
Wir haben es heute also fast ausschließlich mit den "esoterischen" Schriften zu tun, mit Schriften, die ursprünglich nur für den Lehrbetrieb der aristotelischen Schule gedacht waren. Die "veröffentlichten" Schriften waren wahrscheinlich größtenteils Dialoge; Aristoteles wird diesbezüglich seinem Lehrer Plato gefolgt sein. Auch die - nicht erhaltene - Schrift Über die Dichter war ein Dialog. Die ihr "korrespondierende" Schrift in den Manuskripten ist die Poetik . Der Philosophiegeschichte des Diogenes Laertios ist ein Verzeichnis der überlieferten aristotelischen Schriften beigegeben, das besagt, daß die Poetik aus zwei Büchern besteht. Während die erste Hälfte der Poetik die Zeiten überdauert hat, ging die zweite Hälfte, die in Form einer Theorie der Komödie das Lächerliche zum Thema hatte, verloren. Über diesen zweiten Teil der aristotelischen Poetik - Cineasten werden sich erinnern - handeln die mysteriösen Ereignisse in Ecos Roman Der Name der Rose ...
"Seht ihr den Mond dort stehen? - / Er ist nur halb zu sehen / Und ist doch rund und schön!" (Matthias Claudius) [ein letztlich von Wittgenstein verworfener Mottovorschlag für seine "Philosophischen Untersuchungen".
Die aristotelische Poetik und die Rhetorik stehen in einem Nahverhältnis zueinander; das ergibt sich allein schon aus den Querverweisen. Denn einerseits bezieht sich die Poetik auf das, "was sich ... in den Schriften zur Rhetorik findet" (Kap. 19) und andererseits greift die Rhetorik an vielen Stellen auf die Poetik zurück. Diese Querverweise gelten fast ausschließlich den Punkten, in welche die beiden Disziplinen sich teilen: Sprache, Stil, Gedankenführung und Argumentation. Im Gegensatz zur Dichtkunst findet dabei die Redekunst den Stoff - politische Situationen, bestimmte Prozeßlagen - vor und braucht ihn nicht erst zu erfinden; die Dichtkunst dagegen schafft sich ihren Stoff selber - sei es auch durch eine Wahl aus Überliefertem.
Die Poetik war aber nicht die einzige Schrift, die über die Dichtkunst und ihre Erzeugnisse ging; der Dialog Über die Dichter ist schon genannt worden. Aus den spärlichen Hinweisen, die Diogenes Laertios zu diesem Dialog gibt, ist zu entnehmen, daß es Aristoteles dort um literaturgeschichtliche Details, um Biographisches und Anekdotisches zu einzelnen Dichtern ging. Etwas besser bezeugt ist dagegen ein Werk des Aristoteles, das den Titel Homerprobleme trug und sechs Bücher umfaßt haben soll. Von einer weiteren Schrift kennen wir nur den Titel: Über Tragödien .
Die Poetik und darin insbesondere die aristotelische Theorie von der Genese und Entwicklung der dramatischen Gattungen haben - im Zusammenhang mit den Schriften Über die Dichter und Über Tragödien und mit einigen von Aristoteles angelegten Verzeichnissen von Siegerlisten zu Olympischen und Pythischen Spielen - auf einem breiten empirischen Fundament beruht, das sich dem heutigen Leser weitgehend entzieht. Offenkundig ist dagegen die Einbettung der Poetik in die praktische Philosophie des Aristoteles und ihre Zugehörigkeit zum Bereich der Politik und Ethik. Anders als bei der Rhetorik gab es für Aristoteles bei der Abfassung der Poetik allerdings keine vorliegende Tradition poetologischer Traktate, abgesehen vielleicht von den Versuchen Platos, die Dichtung in politischer, pädagogischer und moralischer Hinsicht zu bewerten. Konstitutiv für die aristotelische Auffassung der Poiesis ist ein ethischer Aspekt: als "poetisch" gelten nur Werke, die handelnde Menschen nachahmen, deren Handlungen "notwendigerweise entweder gut oder schlecht" sind; philosophische Lehrgedichte - wie etwa von Parmenides oder Empedokles - sind damit von den poetischen Werken ausgeschlossen. Aristoteles hat also - im Gegensatz zu Plato, der die Kunst gänzlich politischen und pädagogischen Kriterien unterworfen hatte - die ethischen Prämissen der Kunst vor Augen gehabt. Seine Dichtungstheorie ist vor allem durch ihren Grundbegriff "Mimesis" fest mit der Wirklichkeit verbunden - mit einer Wirklichkeit, die das menschliche Handeln und seine Einschätzbarkeit nach objektiv gültigen ethischen Maßstäben in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt.
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"Seht ihr den Mond dort stehen? - / Er ist nur halb zu sehen / Und ist doch rund und schön!" (Matthias Claudius) [ein letztlich von Wittgenstein verworfener Mottovorschlag für seine "Philosophischen Untersuchungen".